Die Unvollendete: Roman (German Edition)

sondern gerettet. Und wenn sie sie nicht gerettet hatte, dann hatte sie sie vielleicht geopfert. Hatte Dr. Kellet nicht selbst gesagt, dass ein Opfer eine höhere Berufung war?
    »Wenn ich du wäre, würde ich mich an traditionelle moralische Richtlinien halten«, sagte er. »Das Schicksal liegt nicht in deiner Hand. Damit wäre ein kleines Mädchen maßlos überlastet.« Er erhob sich von seinem Sessel und schürte das Feuer mit einer Schaufel Kohlen.
    »Manche buddhistische Philosophen (ein Ableger, der sich Zen nennt) behaupten, dass manchmal etwas Schlimmes geschieht, um etwas noch Schlimmeres zu verhindern«, sagte Dr. Kellet. »Aber natürlich gibt es Situationen, in denen man sich unmöglich etwas noch Schlimmeres vorstellen kann.« Ursula vermutete, dass er an Guy dachte, gefallen bei Arras, dem in alle Ewigkeit Tee und Gurkensandwiches verwehrt waren.

    »Probier das«, sagte Izzie und drückte in ihre Richtung auf einen Parfümzerstäuber. »Chanel Nummer 5. Es ist das Beste. Sie ist die Beste. Ihre seltsam verschnittenen Parfüms. « Sie lachte, als hätte sie einen großartigen Witz gemacht, und sprühte eine weitere unsichtbare Wolke ins Bad. Es roch ganz anders als die blumigen Düfte, mit denen Sylvie sich parfümierte.
    Sie waren endlich in Izzies Wohnung in der Basil Street (»ein recht langweiliger endroit, aber nahe bei Harrods«) angekommen. Izzies Bad war ganz rosafarbener und schwarzer Marmor (»Ich habe es selbst entworfen, schön, nicht wahr?«), klare Linien und akkurate Ecken. Ursula wollte gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn man hier ausrutschte und stürzte.
    Alles in der Wohnung wirkte neu und glänzend. Ganz anders als in Fox Corner, wo das scheinbar langsame Ticken der Großvateruhr im Flur die Zeit maß und die Patina der Jahre auf den Parkettböden schimmerte. Die Figuren aus Meißner Porzellan mit den fehlenden Fingern und den angeschlagenen Zehen, die Staffordshire-Hunde mit den versehentlich gestutzten Ohren waren eine ganz andere Welt als die Buchstützen aus Bakelit und die Aschenbecher aus Onyx in Izzies Zimmern. In der Basil Street sah alles so neu aus, dass es in ein Geschäft zu gehören schien. Sogar die Bücher waren neu, Romane und Bände mit Aufsätzen und Lyrik von Schriftstellern, von denen Ursula noch nie gehört hatte. »Man muss mit der Zeit gehen«, sagte Izzie.
    Ursula betrachtete sich im Badezimmerspiegel. Izzie stand hinter ihr, der Mephisto zu ihrem Faust, und sagte: »Sapperlot, ich glaube, du wirst hübsch«, bevor sie Ursulas Haar mehrmals neu arrangierte. »Du musst es dir schneiden lassen«, sagte sie. »Du solltest mitkommen zu meinem Coiffeur. Er ist wirklich gut. Du läufst Gefahr, auszusehen wie ein Milchmädchen, wo ich doch glaube, dass du herrlich boshaft werden wirst.«

    Izzie tanzte durchs Schlafzimmer und sang I wish I could shimmy like my sister Kate. »Kannst du den Shimmy? Schau, es ist ganz einfach.« Das war es nicht, und sie fielen lachend auf die satinbezogene Daunendecke auf dem Bett. »Ein bisschen Spaß muss sein«, sagte Izzie. Das Schlafzimmer war schrecklich unaufgeräumt, überall waren Kleider, Satinunterröcke, Nachthemden aus Crêpe de Chine, Seidenstrümpfe verstreut, einzelne Schuhe lagen einsam auf dem Teppich, ein Hauch von Coty-Puder über allem. »Du kannst die Sachen anprobieren, wenn du möchtest«, sagte Izzie unbekümmert. »Obwohl du, verglichen mit mir, ziemlich klein bist. Jolie et petite. « Ursula lehnte ab, da sie fürchtete, verzaubert zu werden. Es waren Kleider, die einen in jemand anderen verwandeln konnten.
    »Was sollen wir tun?«, fragte Izzie plötzlich gelangweilt. »Karten spielen? Bezique?« Sie tänzelte ins Wohnzimmer und trippelte zu einem großen glänzenden Gegenstand aus Chrom, der aussah, als gehörte er auf die Brücke eines Ozeandampfers, sich jedoch als Cocktailschrank erwies. »Etwas zu trinken?« Sie schaute Ursula zweifelnd an. »Nein, sag nichts, du bist erst dreizehn.« Sie seufzte, zündete sich eine Zigarette an und blickte auf die Uhr. »Wir sind zu spät dran für eine Nachmittagsvorstellung und zu früh für eine Abendvorstellung. London Calling! läuft im Duke of York, er soll sehr lustig sein. Wir könnten ihn uns anschauen, und du fährst mit einem späteren Zug nach Hause.«
    Ursula fuhr über die Tasten der Royal-Schreibmaschine, die auf dem Schreibtisch am Fenster stand. »Mein Gewerbe«, sagte Izzie. »Vielleicht sollte ich diese Woche über dich