Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
Vom Netzwerk:
Rückkehr aus dem Krieg »Hilfe brauchten« (andeutungsweise hatte auch der Major »Hilfe gebraucht«). Ursulas Weg kreuzte sich bisweilen mit diesen anderen Patienten. Einmal saß ein niedergeschlagener junger Mann im Wartezimmer, der auf den Teppich starrte und leise mit sich selbst sprach, ein anderes Mal tippte einer ruhelos mit dem Fuß auf den Boden im Rhythmus mit etwas, was nur er hören konnte. Dr. Kellets Sprechstundenhilfe, die verwitwete Mrs. Duckworth, die im Krieg als Krankenschwester gearbeitet hatte, war immer sehr nett zu Ursula, schenkte ihr Pfefferminzbonbons und erkundigte sich nach ihrer Familie. Eines Tages taumelte ein Mann ins Wartezimmer, obwohl es unten nicht geklingelt hatte. Er schien verwirrt und ein bisschen außer sich, aber er stand stocksteif mitten im Raum und starrte Ursula an, als hätte er noch nie ein Kind gesehen, bis Mrs. Duckworth ihn zu einem Stuhl führte, sich neben ihn setzte, ihm den Arm um die Schulter legte und wie eine gute Mutter sagte: »Was ist denn los, Billy?«, und Billy legte den Kopf an ihre Brust und begann zu schluchzen.
    Hatte Teddy als kleines Kind geweint, hatte Ursula es nicht ertragen. Es schien sich ein Abgrund in ihr aufzutun, etwas Tiefes und Schreckliches und Trauriges. Sie wollte nur, dass er nie wieder weinte. Der Mann in Dr. Kellets Wartezimmer hatte die gleiche Wirkung auf sie. (»So fühlt man sich als Mutter jeden Tag«, sagte Sylvie.)
    In diesem Moment kam Dr. Kellet aus dem Behandlungszimmer und sagte: »Komm, Ursula, Billy ist später dran.« Aber als Ursula fertig war, saß Billy nicht mehr im Wartezimmer. »Der arme Mann«, sagte Mrs. Duckworth betrübt.
    Der Krieg, sagte Dr. Kellet zu Ursula, veranlasse viele Menschen, an neuen Orten nach Sinn zu suchen – »Theosophie, Rosenkreuzertum, Anthroposophie, Spiritualismus. Jeder muss seinen Verlust sinnvoll deuten.« Dr. Kellet selbst hatte einen Sohn geopfert, Guy, ein Hauptmann im Regiment der Royal West Surreys, gefallen bei Arras. »Man muss an der Vorstellung des Opfers festhalten, Ursula. Es kann eine höhere Berufung sein.« Er zeigte ihr das Foto eines Jungen, nicht in Uniform, sondern einen Schnappschuss, wie er in weißer Kricketkleidung stolz hinter seinem Schläger stand. »Er hätte für die Grafschaft spielen können«, sagte Dr. Kellet traurig. »Ich stelle mir vor, dass er – dass sie alle – ein nie zu Ende gehendes Spiel im Himmel spielen. An einem perfekten Juninachmittag, immer kurz bevor sie eine Teepause einlegen.«
    Es schien eine Schande, dass alle diese jungen Männer nicht mehr Tee trinken konnten. Bosun war im Himmel zusammen mit Sam Wellington, dem alten Stinkstiefel, und Clarence Dodds, der am Tag nach dem Waffenstillstand mit erstaunlicher Geschwindigkeit an der spanischen Grippe gestorben war. Ursula konnte sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen Kricket spielte.
    »Ich glaube selbstverständlich nicht an Gott«, sagte Dr. Kellet. »Aber ich glaube an den Himmel. Das muss man«, fügte er ziemlich niedergeschlagen hinzu. Ursula fragte sich, wie sie hier ausgebessert werden sollte.
    »Von einem eher wissenschaftlichen Standpunkt aus«, sagte er, »hat vielleicht der Teil deines Gehirns, der für die Erinnerungen zuständig ist, einen kleinen Defekt, ein neurologisches Problem, das dich veranlasst zu glauben, dass du Erfahrungen wiederholst. Als wäre etwas eingeklemmt.« Sie sei natürlich nicht gestorben und wiedergeboren worden, erklärte er, sie denke nur, dass es so wäre. Ursula verstand nicht, worin der Unterschied bestand. War sie wirklich irgendwo eingeklemmt? Und wenn ja, wo?
    »Aber wir wollen nicht, dass du deswegen die Dienstboten umbringst, oder?«
    »Das ist doch schon lange her«, sagte Ursula. »Seitdem habe ich nicht mehr versucht, jemanden umzubringen.«
    »Verzagt«, sagte Sylvie bei ihrem ersten und einzigen gemeinsamen Termin bei Dr. Kellet in den Räumen in der Harley Street, obwohl sie ganz eindeutig bereits ohne Ursula mit Dr. Kellet gesprochen hatte. Ursula hätte nur zu gern gewusst, was sie über sie gesagt hatten. »Und sie ist die ganze Zeit so trübsinnig«, fuhr Sylie fort. »Ich verstehe ja, wenn ein Erwachsener sich so fühlt –«
    »Ja?«, sagte Dr. Kellet und neigte sich vor, die Meerschaumpfeife bekundete Interesse. »Wirklich?«
    »Ich bin nicht das Problem«, sagte Sylvie und lächelte auf ihre anmutigste Weise.
    Ich bin ein Problem, dachte Ursula. Und außerdem hatte sie Bridget nicht umgebracht,

Weitere Kostenlose Bücher