Die Unvollendete: Roman (German Edition)
schreiben.«
»Wirklich? Was würdest du schreiben?«
»Ich weiß nicht, irgendwas erfinden wahrscheinlich«, sagte sie. »So machen es Schriftsteller.« Sie nahm eine Schallplatte aus dem Grammophonkasten und legte sie auf. »Hör dir das an«, sagte sie. »So etwas hast du noch nie gehört.«
Es stimmte, so etwas hatte sie noch nie gehört. Es fing mit einem Klavier an, aber nicht wie die Stücke von Chopin oder Liszt, die Sylvie so hübsch spielte (und Pamela so schwunglos).
»Man nennt es Honky Tonk, glaube ich«, sagte Izzie. Eine Frau begann zu singen, rauh und amerikanisch. Sie klang, als hätte sie ihr ganzes Leben in einer Gefängniszelle verbracht. »Ida Cox«, sagte Izzie. »Sie ist Negerin. Ist sie nicht außergewöhnlich?«
Das war sie.
»Sie singt davon, was für ein Elend es ist, eine Frau zu sein«, sagte Izzie, zündete eine weitere Zigarette an und zog heftig daran. »Wenn man nur jemanden heiraten könnte, der wirklich unverschämt reich ist. Ein großes Einkommen ist das beste Rezept für das Glück, vom dem ich je gehört habe. Weißt du, wer das gesagt hat? Nein? Solltest du aber.« Sie war plötzlich gereizt, ein nicht ganz gezähmtes Tier. Das Telefon klingelte, und sie sagte: »Von der Glocke gerettet«, und führte ein fieberhaft aufgeregtes Gespräch mit einem unsichtbaren, nicht zu hörenden Anrufer. Sie beendete es mit den Worten: »Das wäre süß, Darling, wir sehen uns in einer halben Stunde.« Und zu Ursula sagte sie: »Ich würde dich ja hinbringen, aber ich muss zu Claridge’s, und das ist Meilen weg von Marylebone, und danach muss ich zu einer Party am Lowndes Square, und deswegen kann ich dich einfach nicht zum Bahnhof bringen. Du kannst mit der U-Bahn zu Marylebone fahren, oder? Du weißt doch, wie? Mit der Piccadilly-Linie zum Piccadilly Circus und dann in die Bakerloo umsteigen nach Marylebone. Komm, ich bring dich raus.«
Als sie auf der Straße standen, holte Izzie tief Luft, als wäre sie ungewollt eingesperrt gewesen. »Ah, es dämmert«, sagte sie. »Die blaue Stunde. Schön, nicht wahr?« Sie küsste Ursula auf die Wange und sagte: »Es war wunderbar, dich zu sehen, das müssen wir wieder machen. Findest du den Weg von hier? Tout droit bis zur Sloane Street, dann links und schwuppdiwupp bist du am U-Bahnhof Knightsbridge. Tschü-üss!«
»Amor fati«, sagte Dr. Kellet, »hast du davon gehört?« Es klang, als hätte er gesagt: »Amorph Vati«. Ursula war verwirrt. Nietzsche (»ein Philosoph«), sagte er, habe sich dafür eingesetzt. »Das schlichte Annehmen dessen, was kommt, ohne es als gut oder schlecht zu bewerten.«
» Werde, der du bist, wie er es ausdrückte«, fuhr Dr. Kellet fort und klopfte die Asche aus seiner Pfeife auf dem Ofen aus, von wo sie, wie Ursula annahm, von jemand anderem aufgekehrt werden würde. »Weißt du, was das bedeutet?« Ursula fragte sich, wie vielen zehnjährigen Mädchen Dr. Kellet schon begegnet war. Er stopfte den Meerschaumkopf mit Tabak. (Das Sein vor dem Nicht-Sein, vermutete Ursula.) »Nietzsche hatte es von Pindar. Genoi oios essi mathon. Kannst du Griechisch?« Sie konnte ihm nicht mehr folgen. »Es bedeutet – werde, der du bist, so wie du es gelernt hast.«
Ursula dachte, er habe »Pinner« gesagt, wohin sich Hughs altes Kindermädchen zurückgezogen hatte. Dort lebte sie jetzt mit ihrer Schwester über einem Laden in einem alten Gebäude in der Hauptstraße. Hugh war mit Ursula und Teddy an einem Sonntagnachmittag in seinem prächtigen Bentley hingefahren, um sie zu besuchen. Nanny Mills war ziemlich furchterregend (nicht für Hugh allerdings) und stellte Ursula zahllose Fragen zu ihren Manieren und schaute nach, ob Teddys Ohren sauber waren. Ihre Schwester war netter und brachte ihnen Wasser mit Holunderblütensirup und Scheiben Milchbrot mit Brombeermarmelade. »Wie geht es Isobel?«, fragte Nanny Mills, und ihr Mund sah dabei aus wie eine Zwetschge. »Izzie ist Izzie«, sagte Hugh, was wie ein kleiner Schwarm Wespen klang, wenn man es wie Teddy später schnell wiederholte. Izzie war offensichtlich vor langer Zeit sie selbst geworden.
Es schien unwahrscheinlich, dass Nietzsche irgendetwas aus Pinner hatte, am allerwenigsten seine Überzeugungen.
»War es nett mit Izzie?«, fragte Hugh, als er sie vom Bahnhof abholte. Der Anblick von Hugh mit seinem grauen Homburg und seinem langen dunkelblauen Wollmantel hatte etwas Beruhigendes. Er musterte sie, ob sie sich sichtbar verändert hatte. Sie hielt es für das
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