Die Unvollendete: Roman (German Edition)
gleichgültig.
Ursula trug ihr Haar noch immer lang, vor allem Hugh zuliebe, aber eines Tages ging sie mit Millie nach Beaconsfield und ließ es abschneiden. Es war ein Akt der Buße, und danach fühlte sie sich wie eine Märtyrerin oder Nonne. Sie nahm an, dass sie den Rest ihres Lebens in einer Mischung aus beidem verbringen würde.
Hugh schien eher überrascht als betrübt. Sie vermutete, dass der Haarschnitt eine harmlose Travestie war, verglichen mit Belgravia. »Herr im Himmel«, sagte er, als er sich abends an den Tisch setzte zu unappetitlichen Kalbskoteletts à la Russe. (»Sieht aus wie Hundefraß«, sagte Jimmy, obwohl er, ein Junge mit stets großem Appetit, gern Jocks Abendessen gegessen hätte.)
»Du siehst wie eine ganz andere Person aus«, sagte Hugh.
»Das kann doch nur gut sein, oder?«, sagte Ursula.
»Ich mochte die alte Ursula«, sagte Teddy.
»Da scheinst du der Einzige zu sein«, murmelte Ursula. Sylvie gab einen Laut von sich, der nicht ganz ein Wort war, und Hugh sagte zu Ursula: »Ach, komm, ich glaube, du –«
Aber sie fand nie heraus, was er glaubte, denn ein lautes Klopfen an der Vordertür kündigte den ziemlich beunruhigten Major Shawcross an, der auf der Suche nach Nancy war. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie beim Essen störe«, sagte er auf der Schwelle zum Esszimmer.
»Sie ist nicht hier«, sagte Hugh, obwohl Nancys Abwesenheit offensichtlich war.
Major Shawcross runzelte die Stirn angesichts der Koteletts auf den Tellern. »Sie wollte Blätter auf dem Weg sammeln«, sagte er. »Für ihr Sammelalbum. Du weißt ja, wie sie ist«, sagte er zu Teddy, Nancys Seelenverwandtem. Nancy liebte die Natur, sammelte ständig Zweige und Tannenzapfen, Schneckenhäuser, Steine und Knochen wie Totems einer uralten Religion. »Ein Naturkind«, nannte sie Mrs. Shawcross. (»Als wäre das etwas Gutes«, sagte Sylvie.)
»Sie wollte Eichenblätter suchen«, sagte Major Shawcross. »Wir haben keine Eichen im Garten.«
Es folgte ein kurzes Gespräch über den Untergang der englischen Eiche, anschließend ein nachdenkliches Schweigen. Major Shawcross räusperte sich. »Laut Roberta ist sie vor ungefähr einer Stunde losgezogen. Ich bin den ganzen Weg abgegangen, hin und zurück, und habe ihren Namen gerufen. Ich kann mir nicht vorstellen, wo sie ist. Winnie und Millie suchen sie ebenfalls.« Major Shawcross sah plötzlich sehr krank aus. Sylvie goss ein Glas Wasser ein und reichte es ihm. »Setzen Sie sich«, sagte sie. Er setzte sich nicht. Natürlich denkt er an Angela, dachte Ursula.
»Wahrscheinlich hat sie was Interessantes entdeckt«, sagte Hugh, »ein Vogelnest oder eine Katze mit Jungen. Sie wissen ja, wie sie ist.« Sie waren jetzt einhellig der Ansicht, dass sie wussten, wie Nancy war.
Major Shawcross nahm einen Löffel vom Esstisch und betrachtete ihn gedankenverloren. »Sie hat das Abendessen versäumt.«
»Ich komme mit und helfe Ihnen suchen«, sagte Teddy und sprang vom Tisch auf. Auch er wusste, wie Nancy war, er wusste, dass sie immer zum Abendessen zu Hause war.
»Ich auch«, sagte Hugh und klopfte Major Shawcross aufmunternd auf die Schulter. Die Kalbskoteletts lagen verlassen da.
»Soll ich auch mitkommen?«, fragte Ursula.
»Nein«, sagte Sylvie. »Und du auch nicht, Jimmy. Wir suchen in den Gärten.«
Kein Eishaus dieses Mal. Die Leichenhalle eines Krankenhauses für Nancy. Sie war noch warm und weich, als sie gefunden wurde, in einen alten leeren Viehtrog gestopft. »Missbraucht«, sagte Hugh, während Ursula wie eine Spionin hinter der Wohnzimmertür lauerte. »Zwei junge Mädchen in drei Jahren, das kann kein Zufall sein, oder? Erdrosselt wie Angela.«
»Ein Ungeheuer lebt unter uns«, sagte Sylvie.
Major Shawcross fand sie. »Gott sei Dank, dass es nicht wieder der arme Ted war«, sagte Hugh. »Er hätte es nicht ertragen.« Teddy ertrug es auch so nicht. Wochenlang sprach er kaum ein Wort. Seine Seele sei ihm weggeschnitten worden, sagte er, als er endlich wieder sprach. »Wunden heilen«, sagte Sylvie. »Auch die schlimmsten.«
»Stimmt das wirklich?«, sagte Ursula und dachte an die Glyzinientapete, das Wartezimmer in Belgravia, und Sylvie machte sich nicht die Mühe zu lügen und sagte: »Nicht immer.«
Während der ganzen ersten Nacht hörten sie Mrs. Shawcross schreien. Danach sah ihr Gesicht nie wieder richtig aus, und Dr. Fellowes berichtete, dass sie einen »kleinen Gehirnschlag« gehabt habe.
»Die arme, arme Frau«, sagte Hugh.
»Sie weiß
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