Die Unvollendete: Roman (German Edition)
nie, wo die Mädchen sind«, sagte Sylvie. »Sie lässt sie immer frei rumlaufen. Jetzt bezahlt sie den Preis für ihre Sorglosigkeit.«
»Oh, Sylvie«, sagte Hugh traurig. »Wo ist dein Herz geblieben?«
Pamela zog nach Leeds. Hugh fuhr sie mit dem Bentley. Ihr Schrankkoffer war zu massiv für den Kofferraum und musste mit dem Zug transportiert werden. »Groß genug, um eine Leiche darin zu verstecken«, sagte Pamela. Sie wohnte in einem Heim für Studentinnen und wusste bereits, dass sie ihr kleines Zimmer mit einem Mädchen namens Barbara aus Macclesfield teilen sollte. »Das ist wie zu Hause«, sagte Teddy aufmunternd, »nur dass Ursula jemand anders ist.«
»Und deswegen ist es überhaupt nicht wie zu Hause«, sagte Pamela. Sie klammerte sich ein bisschen zu fest an Ursula, bevor sie in den Wagen stieg und sich neben Hugh setzte.
»Ich kann es gar nicht erwarten, wegzukommen«, hatte Pamela im Bett am letzten Abend zu Ursula gesagt, »aber es tut mir leid, dass du hierbleibst.«
Als Ursula im Herbst nicht in die Schule zurückkehrte, stellte niemand ihre Entscheidung in Frage. Millie litt zu sehr unter Nancys Tod, als dass ihr irgendetwas anderes wichtig gewesen wäre.
Ursula fuhr jeden Morgen mit dem Zug nach High Wycombe zu einem privaten Sekretärinnencollege. »College« war eine hochtrabende Bezeichnung für zwei kalte Räume, eine kalte Küche und eine noch kältere Kammer mit einem WC über einem Gemüseladen in der Hauptstraße. Das College wurde geleitet von einem Mann namens Mr. Carver, dessen lebenslange Leidenschaften Esperanto und die Kurzschrift nach Pitman waren, Letzteres nützlicher als Ersteres. Ursula mochte Steno, es war wie ein Geheimcode mit einem neuen Vokabular – Hauchlaute und runde Haken, zusammengesetzte Konsonanten, Verkürzungen, Halbierungen und Verdoppelungen –, eine Sprache weder der Toten noch der Lebenden, sondern der seltsam Trägen. Mr. Carvers monotones Herunterleiern von Wortlisten hatte etwas Beruhigendes – wiederholen, Wiederholung, wiederholt, wiederholend, Fürst, fürstlich, Fürsten, Fürstin, Fürstinnen …
Die anderen Mädchen in dem Kurs waren alle sympathisch und freundlich – heitere, praktische Mädchen, die nie ihre Stenohefte und Lineale vergaßen und stets zwei verschiedenfarbige Tinten in der Tasche hatten.
Wenn das Wetter schlecht war, blieben sie mittags im Haus, aßen ihr mitgebrachtes Essen und stopften, zwischen den Schreibmaschinen sitzend, Socken. Im Sommer waren die Mädchen gewandert und geschwommen und hatten gezeltet, und Ursula fragte sich, ob sie ihr ansahen, wie ganz anders ihr Sommer gewesen war. »Belgravia« war zu ihrem Kürzel für das Geschehene geworden. (»Eine Abtreibung«, sagte Pamela. »Eine illegale Abtreibung.« Pamela drückte sich nie um drastische Ausdrücke. Ursula wünschte sehr, sie täte es.) Sie beneidete die Mädchen um ihr gewöhnliches Leben. (Izzie hätte für so einen Gedanken nur Verachtung übrig.) Ursulas Chance auf ein gewöhnliches Leben schien für immer verloren.
Was wäre, wenn sie sich tatsächlich unter den Schnellzug geworfen hätte oder nach Belgravia gestorben wäre, oder wenn sie einfach ihr Schlafzimmerfenster öffnen und sich kopfüber hinausstürzen würde? Könnte sie wirklich wiederkehren und neu anfangen? Oder bildete sie sich das alles nur ein, wie alle behaupteten und wie sie glauben musste? Und wenn ja – war nicht alles in ihrem Kopf auch real? Was, wenn es keine nachweisbare Realität gab? Was, wenn es außerhalb des Geistes nichts gab? Philosophen hatten das Problem vor langer Zeit »in den Griff bekommen«, hatte Dr. Kellet ziemlich griesgrämig zu ihr gesagt, es war eine der ersten Fragen gewesen, die sie diskutierten, es gab also wirklich keinen Grund, warum sie darüber nachdenken sollte. Aber angesichts seiner Natur musste doch bestimmt jeder immer wieder neu mit diesem Dilemma kämpfen?
(»Vergiss die Schreibmaschine«, schrieb Pamela aus Leeds. »Du solltest Philosophie studieren, Du hast den richtigen Kopf dafür. Wie ein Terrier mit einem schrecklich harten Knochen.«)
Schließlich hatte sie Dr. Kellet gesucht und seine Räume von einer Frau mit Nickelbrille und stahlgrauen Haaren besetzt vorgefunden, die sie davon in Kenntnis setzte, dass Dr. Kellet in der Tat nicht mehr arbeitete. Wollte sie nicht einen Termin mit ihr vereinbaren? Nein, sagte Ursula, das wollte sie nicht. Es war das erste Mal, dass sie seit Belgravia in London war, und auf dem
Weitere Kostenlose Bücher