Die Unvollendete: Roman (German Edition)
feuchten Stirn, und als sie die Augen aufschlug, lächelte er sie beruhigend an. Er setzte sich auf das Bett, ohne den Mantel auszuziehen. Sie erbrach sich darüber.
»Wir bringen dich in ein Krankenhaus«, sagte er, ohne sich um die Schweinerei zu kümmern. »Du hast eine Infektion.« Irgendwo im Hintergrund widersprach Izzie hitzig. »Sie werden mich anzeigen«, zischte sie Hugh an, und Hugh sagte: »Gut, ich hoffe, sie stecken dich ins Gefängnis und werfen den Schlüssel weg.« Er hob Ursula hoch und sagte: »Mit dem Bentley sind wir schneller da.« Ursula fühlte sich schwerelos, als würde sie davonschweben. Das Nächste, was sie wusste, war, dass sie sich auf einer riesigen Krankenhausstation befand. Sylvie war bei ihr, ihre Miene wirkte verkniffen und erschreckend. »Wie konntest du nur?«, sagte sie. Ursula war froh, als es Abend wurde und Hugh mit Sylvie den Platz tauschte.
Hugh war bei ihr, als die schwarze Fledermaus kam. Die Nacht streckte ihr die Hand entgegen, und Ursula fasste danach. Sie war erleichtert, nahezu froh, sie spürte die leuchtende lichte Welt, die nicht zu beschreiben war, den Ort, an dem alle Geheimnisse offenbart wurden. Die Dunkelheit hüllte sie ein, ein samtiger Freund. Schnee lag in der Luft, so fein wie Puder, so eisig wie der Ostwind auf der Haut eines Babys – doch dann sank Ursula zurück in das Krankenhausbett, ihre Hand zurückgewiesen.
Ein gleißender Streifen Licht fiel auf das helle Grün der Krankenhausdecke. Hugh schlief, sein Gesicht schlaff und müde. Er saß in unbequemer Haltung auf einem Stuhl neben dem Bett. Ein Hosenbein war etwas nach oben gerutscht, und Ursula sah eine faltige graue Baumwollsocke und die glatte Haut über dem Schienbein ihres Vaters. Er war einst wie Teddy gewesen, dachte sie, und eines Tages würde Teddy wie er sein. Der kleine Junge im Mann, der Mann im kleinen Jungen. Am liebsten hätte sie geweint.
Hugh öffnete die Augen, und als er sie sah, lächelte er müde und sagte: »Hallo, kleiner Bär. Willkommen zurück.«
August 1926
D er Stift soll locker gehalten werden, und zwar so, dass die Kurzschriftzeichen mühelos ausgeführt werden können. Das Handgelenk darf nicht auf dem Block oder dem Schreibtisch aufliegen.
Der Rest des Sommers verlief elend. Sie saß unter den Apfelbäumen im Garten und versuchte, ein Buch über Stenographie zu lesen. Es war beschlossen worden, dass sie einen Schreibmaschinen- und Stenographiekurs absolvieren und nicht in die Schule zurückkehren sollte. »Ich kann nicht mehr zurück«, sagte sie. »Ich kann einfach nicht.«
Vor der Kälte, die Sylvie jedes Mal mitbrachte, wenn sie ein Zimmer betrat, in dem Ursula sich aufhielt, gab es kein Entkommen. Sowohl Bridget als auch Mrs. Glover wunderten sich, warum die »schwere Krankheit«, die sich Ursula während ihres Aufenthalts bei ihrer Tante in London geholt hatte, so eine Distanz zwischen Sylvie und ihrer Tochter geschaffen hatte, da doch eigentlich das Gegenteil zu erwarten gewesen wäre. Izzie wurde natürlich für alle Zeiten aus der Familie ausgeschlossen. Persona non grata in perpetuam. Niemand wusste, was tatsächlich geschehen war, außer Pamela, die Ursula die ganze Geschichte Stück für Stück aus der Nase gezogen hatte.
»Aber wenn er dich gezwungen hat«, sagte sie wütend, »wie kannst du dann glauben, es wäre deine Schuld?«
»Aber die Folgen …«, murmelte Ursula.
Sylvie gab natürlich ganz und gar ihr die Schuld. »Du hast deine Tugend weggeworfen, deinen Charakter, die gute Meinung, die alle von dir hatten.«
»Aber es weiß doch niemand.«
» Ich weiß es.«
»Du klingst wie jemand aus Bridgets Romanen«, sagte Hugh zu Sylvie. Hatte Hugh einen von Bridgets Romanen gelesen? Es schien unwahrscheinlich. »Ja«, fuhr Hugh fort, »du klingst wie meine Mutter.« (»So entsetzlich es jetzt ist«, sagte Pamela, »es wird vorbeigehen.«)
Sogar Millie ließ sich von ihren Lügen hinters Licht führen. »Blutvergiftung!«, sagte sie. »Wie dramatisch. War es schrecklich im Krankenhaus? Nancy hat gesagt, dass Teddy ihr erzählt hat, dass du beinahe gestorben wärst. So etwas Aufregendes wird mir bestimmt nicht passieren.«
Was für ein Riesenunterschied zwischen Sterben und Beinahe-Sterben bestand. Ein ganzes Leben. Ursula hatte das Gefühl, dass sie keine Verwendung hatte für das Leben, für das sie gerettet worden war. »Ich möchte wieder zu Dr. Kellet gehen«, sagte sie zu Sylvie.
»Ich glaube, er ist in Rente«, sagte Sylvie
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