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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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lebte.
    »Bayswater?«, hatte Sylvie skeptisch gesagt, als Ursula verkündete, dass sie zu Hause ausziehen würde. »Ist das wirklich nötig?« Hugh und Sylvie hatten die Wohnung gründlich inspiziert, und sie hatten auch Hilda inspiziert, die Sylvies inquisitorische Fragen mit Bravour beantwortete. Dennoch ließen sowohl die Wohnung als auch Hilda in Sylvies Augen zu wünschen übrig.
    »Ernest aus Ealing«, wie Ursula ihn bei sich nannte, war es, der die Miete zahlte (»er hält mich aus«, sagte Hilda und lachte), doch Hilda kam alle zwei Wochen vorbei, um die Post zu holen und ihr das Geld zu geben. »Ich kann jemand anders für die Wohnung suchen«, sagte Ursula, obwohl sie nichts weniger wollte.
    »Warten wir ein bisschen«, sagte Hilda, »ob die Sache funktioniert. Das ist das Schöne, wenn man in Sünde lebt, ich kann jederzeit aufstehen und gehen.«
    »Das kann auch Ernest (aus Ealing).«
    »Ich bin einundzwanzig, er ist zweiundvierzig, er wird mich nicht verlassen, glaub mir.«
    Es war eine Erleichterung gewesen, als Hilda auszog. Ursula konnte jetzt den ganzen Abend in ihrem Morgenmantel und mit Lockenwicklern im Haar herumliegen, Orangen und Schokolade essen und Radio hören. Nicht, dass Hilda Einwände gegen diese Lebensweise erhoben hätte, im Gegenteil, sie hätte sie genossen, aber Sylvie hatte von Anfang an großen Wert auf Schicklichkeit in Anwesenheit anderer gelegt, und das war nur schwer wieder abzuschütteln.
    Nachdem sie ein paar Wochen allein war, fiel ihr auf, dass sie kaum Freundinnen hatte, und an den wenigen, die sie hatte, lag ihr anscheinend nicht genug, um mit ihnen in Verbindung zu bleiben. Millie war Schauspielerin geworden und meistens mit ihrer Theatertruppe auf Tournee. Sie schickte hin und wieder eine Postkarte aus einem Ort, an den sie sonst nie gekommen wäre – Stafford, Gateshead, Grantham –, und zeichnete lustige Karikaturen von sich selbst in unterschiedlichen Rollen (»Ich als Julia, zum Totlachen«). Ihre Freundschaft hatte Nancys Tod nicht wirklich überlebt. Die Shawcross-Familie hatte sich in ihren Schmerz zurückgezogen, und als Millie endlich wieder anfing, ihr Leben zu leben, musste sie feststellen, dass Ursula ihres nicht mehr lebte. Ursula wünschte sich oft, dass sie Millie Belgravia erklären könnte, doch sie wollte den fragilen Rest ihrer Beziehung nicht aufs Spiel setzen.
    Sie arbeitete für eine große Importfirma, und wenn Ursula den Mädchen im Büro zuhörte, die erzählten, was sie mit wem gemacht hatten, fragte sie sich manchmal, wie um alles in der Welt sie diese Leute kennengelernt hatten, diese Gordons, Charlys, Dicks, Mildreds, Eileens und Veras – eine fröhliche ruhelose Schar, mit der sie ins Varieté und ins Kino oder Schlittschuhlaufen gingen, in Frei- und Hallenbädern schwammen und nach Epping Forest und Eastbourne fuhren. Ursula tat nichts dergleichen.
    Ursula sehnte sich danach, allein zu sein, aber sie hasste die Einsamkeit, ein Rätsel, das sie nicht annähernd lösen konnte. In der Arbeit stand sie abseits, als wäre sie in jeder Beziehung älter als die anderen, obwohl sie es nicht war. Gelegentlich fragte sie die eine oder andere aus der Büroclique: »Willst du mit uns nach der Arbeit ausgehen?« Es war gut gemeint und fühlte sich an wie Wohltätigkeit, was es wahrscheinlich auch war. Sie nahm das Angebot nie an. Sie vermutete, nein, sie wusste, dass sie hinter ihrem Rücken über sie redeten, keine Gemeinheiten, sie waren nur neugierig. Sie dachten, dass sie etwas verbarg. Etwas Unbekanntes, Dunkles. Und stille Wasser sind tief. Sie wären enttäuscht, wenn sie wüssten, dass sie nichts verbarg, dass Klischees interessanter waren als das Leben, das sie führte. Keine Tiefen, nichts Dunkles (in der Vergangenheit vielleicht, nicht in der Gegenwart). Außer man zählte das Trinken. Was sie vermutlich tun würden.
    Die Arbeit war eine lästige Pflicht – endlose Frachtbriefe und Zollerklärungen und Bilanzen. Die Waren – Rum, Kakao, Zucker – und die exotischen Orte, von denen sie stammten, schienen nicht zur täglichen Langweile im Büro zu passen. Sie hielt sich für ein kleines Rädchen im großen Getriebe des Empire. »Nicht verkehrt, ein Rädchen zu sein«, sagte Maurice, der jetzt ein großes Tier im Innenministerium war. »Die Welt braucht Rädchen.« Sie wollte kein Rädchen sein, aber Belgravia schien alles Glanzvollere ein für alle Mal erledigt zu haben.
    Ursula wusste, wie sie mit dem Trinken angefangen hatte.

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