Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Bahnhof. Ursula setzte sich auf einen der warmen Plüschsitze und dachte über ihre Zukunft nach. Sie nahm an, dass sie sich unter die anderen gefallenen Frauen mischen und in den Straßen von London ihr Elend beweinen könnte. Sich auf eine Parkbank legen und über Nacht erfrieren könnte, nur dass es Hochsommer war und sie nicht erfrieren würde. Oder in die Themse gehen und sich mit der Strömung treiben lassen könnte, an Wapping und Rotherhithe und Greenwich vorbei und weiter nach Tilbury und ins Meer. Wie verwundert ihre Familie wäre, wenn ihre Leiche aus den Tiefen gezogen würde. Sie stellte sich Sylvie vor, die über dem Stopfen die Stirn runzelte und sagte: Aber sie ist nur spazieren gegangen, sie hat gesagt, dass sie auf dem Weg wilde Himbeeren pflücken will. Ursula dachte schuldbewusst an die weiße Puddingform aus Porzellan, die sie neben der Hecke hatte stehen lassen in der Absicht, sie auf dem Rückweg mitzunehmen. Sie war halb gefüllt mit den sauren kleinen Beeren, und ihre Finger waren noch rot gefleckt.
Den ganzen Nachmittag ging sie durch die Parks von London, durch den St. James Park und den Green Park, am Palast vorbei und in den Hyde Park und weiter nach Kensington Gardens. Es war erstaunlich, wie weit man in London gehen konnte und kaum einen Gehweg benutzen oder eine Straße überqueren musste. Sie hatte natürlich kein Geld dabei – ein lächerlicher Fehler, wie ihr jetzt klar wurde – und konnte sich in Kensington nicht einmal eine Tasse Tee kaufen. Hier war kein Fred Smith, der sich ihrer annahm. Ihr war heiß, und sie war müde und voller Staub, und sie fühlte sich so verbrannt wie das Gras im Hyde Park.
Konnte man das Wasser aus dem Serpentine trinken? Shelleys erste Frau hatte sich darin ertränkt, aber Ursula nahm an, dass es an einem Tag wie diesem – Menschenmassen genossen den Sonnenschein – unmöglich wäre, einen anderen Mr. Winton zu meiden, der ihr nachsprang und sie rettete.
Sie wusste natürlich, wohin sie ging. Es war irgendwie unvermeidlich.
»Du lieber Gott, was ist denn mit dir los?«, sagte Izzie und riss die Tür dramatisch weit auf, als hätte sie jemand Interessanteren erwartet. »Du siehst schrecklich aus.«
»Ich bin den ganzen Nachmittag rumgelaufen«, sagte Ursula. »Ich habe kein Geld. Und ich glaube, dass ich ein Kind kriege.«
»Dann kommst du besser rein«, sagte Izzie.
Und jetzt saß sie in einem großen Haus in Belgravia auf einem unbequemen Stuhl in einem Raum, der früher ein Esszimmer gewesen sein musste. Jetzt diente er keinem anderen Zweck als dem Warten und war undefinierbar. Das holländische Stillleben über dem Kamin und die angestaubten Chrysanthemen auf dem Pembroke-Tisch lieferten keinen Hinweis darauf, was an anderer Stelle in dem Haus geschah. Es war schwer, diese Situation mit dem verhassten Rendezvous mit Howie auf der rückwärtigen Treppe in Verbindung zu bringen. Wer hätte gedacht, dass es so einfach sein konnte, von einem Leben in ein anderes zu rutschen. Ursula fragte sich, was Dr. Kellet zu ihrer misslichen Lage gesagt hätte.
Nach ihrer unerwarteten Ankunft in der Melbury Road hatte Izzie sie ins Bett des Gästezimmers gesteckt, und Ursula hatte unter den glänzenden Satinlaken geschluchzt und versucht, nicht auf die unglaublichen Lügen zu hören, die Izzie am Telefon im Flur erzählte – Ich weiß! Sie hat einfach vor der Tür gestanden, das Lämmchen … wollte mich sehen … besuchen, Museen und so weiter, Theater, nichts risqué … jetzt streite nicht mit mir, Hugh … Nur gut, dass Izzie nicht mit Sylvie gesprochen hatte, die kurzen Prozess mit ihr gemacht hätte. Der Gipfel war, dass ihr erlaubt wurde, ein paar Tage für die Museen und so weiter zu bleiben.
Nach dem Telefongespräch kam Izzie mit einem Tablett ins Gästezimmer.
»Brandy«, sagte sie. »Und Toast mit Butter. Mehr habe ich auf die Schnelle leider nicht auftreiben können. Du bist so ein Dummkopf«, sagte sie und seufzte. »Es gibt Möglichkeiten, weißt du, Dinge, die man tun kann, Vorsorge ist besser als Nachsorge und so weiter.« Ursula hatte keine Ahnung, wovon Izzie sprach.
»Und du musst es wegmachen lassen«, fuhr Izzie fort. »Da sind wir doch einer Meinung, oder?« Eine Frage, die Ursula aus tiefstem Herzen mit einem »Ja« beantwortete.
Eine Frau in Schwesterntracht öffnete die Tür zu dem Wartezimmer in Belgravia und schaute herein. Ihre Tracht war so gestärkt, dass sie auch von allein aufrecht gestanden
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