Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Rückweg hatte sie in der Bakerloo-Linie eine Panikattacke und musste im Bahnhof Marylebone aussteigen und keuchend nach oben laufen. Ein Zeitungsverkäufer fragte: »Geht es Ihnen nicht gut, Miss?«, und sie erwiderte, doch, doch, alles in Ordnung, danke.
Mr. Carver berührte die Mädchen (»meine Mädchen«) gern leicht an der Schulter, strich über das Angora eines Bolerojäckchens oder die Lammwolle eines Pullovers, als wären es Tiere, die er mochte.
Morgens übten sie das Tippen auf den großen Underwoods. Manchmal ließ Mr. Carver sie mit verbundenen Augen tippen, da das die einzige Möglichkeit war, so behauptete er, zu verhindern, dass sie auf die Tasten schauten und langsamer wurden. Mit der Augenbinde kam sich Ursula vor wie ein Soldat, der wegen Fahnenflucht gleich erschossen werden sollte. Bei diesen Gelegenheiten hörte sie oft, wie er merkwürdige Laute von sich gab, gedämpftes Keuchen und Schnaufen, doch sie wollte nicht unter der Augenbinde hervorspähen, um nachzusehen, was er tat.
Nachmittags übten sie Kurzschrift – einschläfernde Diktate aller nur erdenklichen Geschäftsbriefe. Sehr geehrter Herr, ich habe Ihren Brief dem Direktorium bei der gestrigen Sitzung vorgelegt, doch nach kurzer Diskussion waren wir gezwungen, eine weitere Bewertung der Angelegenheit auf die nächste Direktoriumssitzung zu verschieben, die am letzten Dienstag … Der Inhalt dieser Briefe war extrem langweilig und bildete einen merkwürdigen Kontrast zum rasanten Fließen der Tinte auf ihren Blöcken, während sie sich bemühten, den Faden nicht zu verlieren.
Eines Nachmittags, während er diktierte: Bedauerlicherweise sehen wir keinerlei Erfolgsaussichten für diejenigen, die gegen den Termin etwas einzuwenden haben, ging Mr. Carver hinter Ursula vorbei und berührte sacht ihren Nacken, der nicht mehr von ihrem langen Haar geschützt wurde. Ein Schauder durchfuhr sie. Sie starrte auf die Tasten der Underwood, die vor ihr auf dem Tisch stand. Hatte sie etwas an sich, was diese Art Aufmerksamkeit auf sich zog? War sie kein guter Mensch?
Juni 1932
F ür sich selbst hatte Pamela weißen Brokat gewählt und gelben Satin für ihre Brautjungfern. Das Gelb hatte einen Stich ins Zitronige und ließ die Brautjungfern etwas gallig aussehen. Es waren ihrer vier – Ursula, Winnie Shawcross (die den Vorzug vor Gertie erhalten hatte) und Harolds zwei jüngere Schwestern. Harold stammte aus einer großen lauten Familie aus der Old Kent Road, die Sylvie als »nicht standesgemäß« erachtete. Die Tatsache, dass Harold Arzt war, milderte die Umstände nicht (Sylvie hegte eine seltsame Aversion gegen Mediziner). »Deine eigene Familie war doch auch etwas déclassé, oder etwa nicht?«, sagte Hugh zu Sylvie. Er mochte seinen zukünftigen Schwiegersohn, empfand ihn als »erfrischend«. Er mochte auch Harolds Mutter Olive. »Sie sagt, was sie denkt«, sagte er zu Sylvie. »Und meint, was sie sagt. Im Gegensatz zu manch anderen.«
»In dem Stoffmusterbuch sah er hübsch aus«, sagte Pamela zweifelnd bei Ursulas dritter und letzter Anprobe bei der Schneiderin. Das schräg geschnittene Kleid spannte sich über Ursulas Bauch.
»Sie haben zugenommen seit der letzten Anprobe«, sagte die Schneiderin.
»Wirklich?«
»Ja«, sagte Pamela. Ursula dachte an das letzte Mal, dass sie zugenommen hatte. Belgravia. Das war dieses Mal definitiv nicht der Grund. Sie stand auf einem Stuhl, die Schneiderin umkreiste sie mit einem Nadelkissen auf dem Handgelenk. »Du siehst trotzdem hübsch aus«, fügte Pamela hinzu.
»In der Arbeit sitze ich den ganzen Tag«, sagte Ursula. »Wahrscheinlich sollte ich mich mehr bewegen.« Es war so leicht, faul zu sein. Sie lebte allein, aber das wusste niemand. Hilda, das Mädchen, mit dem sie eigentlich zusammenwohnte – in einer kleinen Wohnung in einem obersten Stock in Bayswater –, war ausgezogen, zahlte jedoch Gott sei Dank weiterhin Miete. Hilda lebte jetzt in Ealing in einem »richtigen kleinen Lustschloss« mit einem Mann namens Ernest, dessen Frau die Scheidung verweigerte, und behauptete ihren Eltern gegenüber, dass sie noch immer in Bayswater wohnte und das Leben einer alleinstehenden tugendhaften Frau führte. Ursula nahm an, dass Hildas Eltern demnächst unerwartet vor der Tür stehen würden und sie sich eine oder mehrere Lügen ausdenken müsse, um die Abwesenheit ihrer Tochter zu erklären. Hugh und Sylvie wären entsetzt, wenn sie wüssten, dass Ursula allein in London
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