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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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sagte sie zu Ursula. »Sie ist immer für eine Überraschung gut.«
    »Fast fertig«, sagte die Schneiderin in Neasden mit dem Mund voller Stecknadeln.
    »Ich glaube, ich werde ein bisschen rundlich«, sagte Ursula und schaute im Spiegel auf den gelben Satin, der sich über ihrem Schmerbauch spannte. »Vielleicht sollte ich dem Frauenturnverein beitreten.«

    Obwohl sie stocknüchtern war, stolperte sie auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Es war ein scheußlicher Novemberabend ein paar Monate nach Pamelas Hochzeit, nass und dunkel, und sie übersah die Kante eines Pflastersteins, der von einer Baumwurzel angehoben war. Sie hatte die Hände voll – Bücher aus der Bibliothek und Lebensmittel, die sie während der Mittagspause hastig geholt hatte –, und instinktiv wollte sie die Bücher und Lebensmittel schützen statt sich selbst. Die Folge war, dass sie mit dem Gesicht auf dem Pflaster aufschlug, am heftigsten traf es ihre Nase.
    Der Schmerz verschlug ihr den Atem, nie zuvor hatte sie auch nur annäherungsweise so etwas gespürt. Sie kniete auf dem Boden, die Arme um sich geschlungen, Einkäufe und Bücher lagen auf dem nassen Gehweg. Sie hörte sich selbst stöhnen – wehklagen – und konnte nichts dagegen tun.
    »Oje«, sagte eine Männerstimme, »wie schrecklich. Ich helfe Ihnen. Ihr hübscher pfirsichfarbener Schal ist voller Blut. So heißt doch die Farbe, oder ist es Lachs?«
    »Pfirsich«, murmelte Ursula trotz des Schmerzes höflich. Sie hatte nie über den Mohairschal um ihren Hals nachgedacht. Sie schien heftig zu bluten. Sie spürte, wie ihr ganzes Gesicht anschwoll, und roch das Blut, rostig, das sich in ihrer Nase dick anfühlte. Aber der Schmerz hatte ein bisschen nachgelassen.
    Der Mann sah freundlich aus, nicht sehr groß, er hatte sandfarbenes Haar und blaue Augen. Reine, glänzende Haut spannte sich über seinen Backenknochen. Er half ihr auf die Beine. Seine Hand war fest und trocken. »Ich heiße Derek, Derek Oliphant«, sagte er.
    »Elephant?«
    »Oliphant.«
    Drei Monate später heirateten sie.

    Derek stammte aus Barnet und war in Sylvies Augen ebenso wenig standesgemäß wie Harold. Das war natürlich der entscheidende Grund, warum Ursula sich zu ihm hingezogen fühlte. Er unterrichtete Geschichte in Blackwood, einer unbedeutenden Internatsschule für Jungen (»die Kinder ehrgeiziger Ladenbesitzer«, sagte Sylvie verächtlich) und umwarb Ursula mit Konzerten in der Wigmore Hall und Spaziergängen über den Primrose Hill. Sie machten lange Fahrradtouren, die in netten Pubs in den Vororten mit einem Bier für ihn und einer Limonade für sie endeten.
    Ihre Nase war gebrochen. (»Oh, du Arme«, schrieb Pamela. »Du hattest eine so hübsche Nase.«) Bevor er sie ins Krankenhaus brachte, führte Derek sie in ein Gasthaus in der Nähe, wo sie sich ein bisschen säubern konnte. »Ich bestelle Ihnen einen Brandy«, sagte er, als sie sich setzte, und sie sagte: »Nein, nein, es geht schon, ich möchte nur ein Glas Wasser. Ich trinke nicht oft«, obwohl sie am Abend zuvor auf dem Boden ihres Schlafzimmers in Bayswater dank einer Flasche Gin, die sie Izzie geklaut hatte, zusammengebrochen war. Sie hatte keine Skrupel, Izzie zu bestehlen, Izzie hatte ihr so viel genommen. Belgravia und so weiter.
    Ursula hörte so abrupt mit dem Trinken auf, wie sie damit angefangen hatte. Sie nahm an, dass sie einen Hohlraum in sich hatte, der in Belgravia entstanden war. Sie hatte versucht, ihn mit Alkohol zu füllen, doch jetzt war er prallvoll mit ihren Gefühlen für Derek. Was für Gefühle waren es? Vor allem Erleichterung, dass jemand sich um sie kümmern wollte, jemand, der nichts von ihrer schändlichen Vergangenheit wusste. »Ich bin verliebt«, schrieb sie berauscht an Pamela. »Hurra«, antwortete Pamela.
    »Manchmal«, sagte Sylvie, »verwechselt man Dankbarkeit mit Liebe.«

    Dereks Mutter lebte noch in Barnet, doch sein Vater war tot, ebenso seine kleine Schwester. »Es war ein schrecklicher Unfall«, sagte Derek. »Sie ist ins Kaminfeuer gefallen, als sie vier Jahre alt war.« Sylvie hatte immer darauf geachtet, dass ein Gitter vor dem Kamin stand. Als Junge wäre Derek beinahe ertrunken, erzählte er, nachdem Ursula von dem Vorfall in Cornwall berichtet hatte. Es war eins der wenigen Abenteuer in ihrem Leben, bei dem sie eine nahezu völlig unschuldige Rolle gespielt hatte. Und Derek? Eine stürmische Flut, ein gekentertes Ruderboot, eine heldenhaft schwimmende Rückkehr ans Ufer. Ein

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