Die Unvollendete: Roman (German Edition)
in Wut geraten. Jeden Abend forderte er jetzt einen peinlich genauen Bericht über ihren Tag. Wie viele Bücher hatte sie in der Bibliothek umgetauscht, was hatte der Fleischer zu ihr gesagt, war jemand vorbeigekommen? Sie gab das Tennisspielen auf. Es war einfacher.
Er schlug sie nicht wieder, aber unter der Oberfläche schwelte die Gewalttätigkeit, ein schlafender Vulkan, den Ursula ungewollt zum Leben erweckt hatte. Er erwischte sie ständig auf dem falschen Fuß, so dass sie nie einen Moment Zeit zu haben schien, um die Verwirrung in ihrem Kopf zu klären. Ihre schiere Existenz schien ihm lästig.
Musste das Leben eine fortwährende Bestrafung sein? (Warum nicht, verdiente sie es nicht so?)
Sie lebte jetzt mit einer seltsamen Malaise, als wäre ihr Kopf voller Nebel. Sie hatte sich ein Bett gemacht und musste nun darin schlafen, mutmaßte sie. Vielleicht war das eine andere Version von Dr. Kellets amor fati. Was würde er zu ihrer misslichen Lage sagen? Oder vielleicht besser, was würde er zu Dereks sonderbarem Charakter sagen?
Sie sollte ihn am Tag des Sportfests in die Schule begleiten. Es war ein großes Ereignis für Blackwood, und von den Lehrerfrauen wurde erwartet, dass sie teilnahmen. Derek hatte ihr Geld für einen neuen Hut gegeben und gesagt: »Schau zu, dass du schick aussiehst.«
Sie ging in ein nahes Geschäft, das Damen- und Kinderkleidung verkaufte. Es hieß A La Mode (obwohl es genau das nicht war). Hier kaufte sie Strümpfe und Unterwäsche. Seit der Hochzeit hatte sie keine neue Kleidung erstanden. Ihr lag nicht genug an ihrem Aussehen, um Derek um Geld zu bitten.
Es war ein dröger Laden in einer ganzen Reihe dröger Läden – ein Friseur, ein Fischladen, ein Gemüsehändler, ein Postamt. Sie hatte weder die Beherztheit noch den Mut (oder das Geld), in ein schickes Londoner Kaufhaus zu fahren, und ihr war auch nicht danach zumute (und was hätte Derek dazu gesagt?). Als sie in der Stadt arbeitete, vor der Wasserscheide ihrer Heirat, hatte sie viel Zeit in Selfridge’s und bei Peter Robinson verbracht. Jetzt erschienen ihr diese Orte so weit entfernt wie ein fremdes Land.
Der Inhalt des Schaufensters wurde von einer gelborangefarbenen Folie vor der Sonne geschützt, einer Art dickes Zellophan, das sie an die Verpackungsfolie einer Flasche Lucozade erinnerte und alles im Fenster zu etwas machte, was sie absolut nicht haben wollte.
Es war nicht der schönste Hut, aber sie nahm an, dass er seinen Zweck erfüllte. Ohne es zu wollen, betrachtete sie sich in dem dreiteiligen bodenlangen Spiegel. In diesem Triptychon sah sie dreimal schlimmer aus als im Badezimmerspiegel (der einzige im Haus, den sie nicht vermeiden konnte). Sie erkannte sich nicht wieder, sie hatte den falschen Weg eingeschlagen, die falsche Tür geöffnet und fand nicht mehr zurück.
Plötzlich und schrecklicherweise brachte sie sich selbst aus der Fassung, indem sie laut aufheulte, der erbärmliche Laut absoluter Verzweiflung. Die Besitzerin kam hinter dem Ladentisch hervor und sagte: »Aber, meine Liebe, regen Sie sich doch nicht auf. Ihre Tage, nicht wahr?« Sie bot ihr an, sich zu setzen, brachte ihr eine Tasse Tee und ein Keks, und Ursula wusste nicht, wie sie ihre Dankbarkeit für diese schlichte Freundlichkeit ausdrücken sollte.
Die Schule war eine Station mit dem Zug entfernt, und dann musste sie noch ein kurzes Stück eine ruhige Straße entlanggehen. Ursula reihte sich in den Strom der Eltern ein, der sich durch die Tore von Blackwood ergoss. Es war aufregend – und ein bisschen furchterregend –, sich plötzlich unter so vielen Leuten wiederzufinden. Sie war noch kein halbes Jahr verheiratet, und doch hatte sie vergessen, wie es war, sich in einer Menschenmenge aufzuhalten.
Ursula war nie zuvor in der Schule gewesen und war überrascht von dem gewöhnlichen roten Klinkerbau und den langweiligen Blumenrabatten, sie war ganz anders als das alte Internat, in das die männlichen Mitglieder der Familie Todd geschickt wurden. Teddy und dann Jimmy waren in Maurice’ Fußstapfen getreten und besuchten Hughs alte Schule, ein schönes Gebäude aus grauem Stein und so erfreulich anzusehen wie ein Oxford-College. (»Aber drin geht es wild zu«, sagte Teddy.) Das Gelände war besonders schön, und sogar Sylvie bewunderte die Fülle von Blumen in den Beeten. »Eine ziemlich romantische Bepflanzung«, sagte sie. Dereks Schule hatte nichts Romantisches, hier wurde vielmehr Wert auf die Sportanlagen gelegt. Die
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