Die Unvollendete: Roman (German Edition)
war mit seinem Buch?
Ursula hatte sich nie um die Dinge in Dereks »Arbeitszimmer« gekümmert. Sie hatte sich nie besonders für die Plantagenets oder die Tudors oder irgendetwas dazwischen oder danach interessiert. Sie hatte strikte Anweisung erhalten, seine Papiere und Bücher nicht anzurühren, wenn sie im Esszimmer (wie sie es bei sich immer noch nannte) abstaubte oder polierte, aber das tat sie sowieso nicht, ebenso wenig hatte sie den Fortschritt des großen Werks beachtet.
In letzter Zeit hatte er fieberhaft gearbeitet, der Tisch war bedeckt mit einem Durcheinander von Notizen und Zetteln. Es waren zusammenhangslose Sätze und Gedanken – der amüsante, wenn auch etwas primitive Glauben – planta genista, Ginster, von dem der Name Angevin herrührt – sie kamen vom Teufel, und zum Teufel fuhren sie wieder. Von einem richtigen Manuskript war nichts zu sehen, nur Korrekturen über Korrekturen, derselbe Absatz wieder und wieder geschrieben mit winzigen Veränderungen, und endlose Seiten mit Versuchen, notiert in linierte Hefte mit dem Wappen und dem Motto von Blackwood ( A posse ad esse – »von der Möglichkeit zur Wirklichkeit«) auf dem Einband. Kein Wunder, dass sie das Manuskript nicht hatte tippen dürfen. Sie hatte einen Edward Casaubon geheiratet.
Dereks gesamtes Leben war ein Lügengebäude. Schon seine ersten Worte (Oje, wie schrecklich. Ich helfe Ihnen) waren nicht aufrichtig gewesen. Was hatte er von ihr gewollt? Hatte er jemanden gesucht, der schwächer war als er? Oder eine Frau, eine Mutter seiner Kinder, jemanden, der ihm den Haushalt führte, das ganze Brimborium des vie quotidienne, aber ohne das darunterliegende Chaos? Sie hatte ihn geheiratet, um sich vor diesem Chaos zu schützen. Und er hatte sie aus dem gleichen Grund geheiratet, das begriff sie jetzt. Sie waren die letzten zwei Personen auf dieser Erde, die irgendjemanden vor irgendetwas schützen konnten.
Ursula kramte in den Schubladen der Anrichte und fand ein Bündel Briefe, der oberste mit dem Briefkopf von William Collins and Sons, Co. Ltd, in dem »mit Bedauern« seine Idee für ein Buch »in einem bereits ausführlich behandelten Bereich von Geschichtsbüchern« abgelehnt wurde. Auch von anderen Schulbuchverlagen fand sie ähnliche Ablehnungsschreiben und, schlimmer noch, unbezahlte Rechnungen und bedrohliche letzte Zahlungsaufforderungen. Ein besonders harscher Brief forderte die sofortige Rückzahlung des Kredits, mit dem er offenbar das Haus finanziert hatte. Es war die Art scharfer Brief, wie sie sie im Sekretärinnen-College nach Diktat getippt hatte. Sehr geehrter Herr, mir wurde zur Kenntnis gebracht –
Sie hörte, dass die Haustür geöffnet wurde, und ihr Herz begann zu rasen. Derek stand auf der Schwelle zum Esszimmer, ein barbarischer Eindringling auf der Bühne. »Was tust du da?«
Sie hielt den Brief von William Collins hoch und sagte: »Du bist durch und durch ein Lügner. Warum hast du mich geheiratet? Warum hast du uns beide so unglücklich gemacht?« Der Ausdruck in seinem Gesicht. Dieses Gesicht. Sie bat darum, umgebracht zu werden, aber war das nicht leichter, als es selbst zu tun? Es war ihr gleichgültig, sie hatte keine Kraft mehr.
Ursula erwartete den ersten Hieb, dennoch überraschte er sie, seine Faust krachte ihr mitten ins Gesicht, als wollte er es zerschlagen.
Sie schlief auf dem Küchenboden, vielleicht hatte sie auch das Bewusstsein verloren, bis kurz vor sechs. Ihr war schlecht und schwindlig, und jeder Zentimeter ihres Körpers schmerzte und war wund und schwer wie Blei. Sie war am Verdursten, traute sich jedoch nicht, den Wasserhahn aufzudrehen aus Angst, Derek zu wecken. Sie stützte sich zuerst auf einen Stuhl und dann auf den Tisch und stand auf. Sie fand ihre Schuhe, schlich in den Flur, wo sie Mantel und Kopftuch nahm. Dereks Brieftasche steckte in seiner Jacke, und sie holte einen Zehn-Schilling-Schein heraus, mehr als genug für die Zugfahrt und dann ein Taxi. Sie fühlte sich allein schon beim Gedanken an die anstrengende Fahrt zu Tode erschöpft – sie war nicht einmal sicher, dass sie es zu Fuß bis zum Bahnhof Harrow and Wealdstone schaffen würde.
Sie schlüpfte in den Mantel, band sich das Kopftuch um und zog es ins Gesicht, ohne dabei in den Flurspiegel zu schauen. Es wäre ein zu schrecklicher Anblick. Sie ließ die Haustür einen Spaltbreit offen stehen, damit er nicht erwachte, wenn sie ins Schloss fiel. Sie dachte an Ibsens Nora, die die Tür hinter sich
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