Die Unvollendete: Roman (German Edition)
zuknallte. Nora hätte dramatische Gesten vermieden, hätte sie versucht, Derek Oliphant zu entkommen.
Es war der längste Weg ihres Lebens. Ihr Herz schlug so rasend, dass sie Angst hatte, es würde versagen. Die ganze Strecke rechnete sie damit, dass er ihr nachlief und ihren Namen schrie. Am Fahrkartenschalter murmelte sie mit einem Mund voller blutiger, zerbrochener Zähne: »Euston.«
Der Beamte schaute sie kurz an und blickte rasch wieder weg, als er sah, in was für einem Zustand sie sich befand. Ursula nahm an, dass er nie zuvor mit einer Frau zu tun gehabt hatte, die aussah, als hätte sie mit bloßen Händen einen Faustkampf ausgetragen.
Im Wartesaal für Frauen musste sie zehn angstvolle Minuten auf den ersten Zug des Tages warten, aber zumindest konnte sie Wasser trinken und sich das getrocknete Blut aus dem Gesicht waschen.
Sie saß mit gesenktem Kopf im Abteil, schirmte mit der Hand das Gesicht ab. Die Männer in Anzügen und mit Bowler ignorierten sie geflissentlich. Während sie darauf wartete, dass der Zug losfuhr, riskierte sie einen Blick auf den Bahnsteig und war über die Maßen erleichtert, dass Derek nirgendwo zu sehen war. Mit ein bisschen Glück würde er sie noch nicht vermissen, sondern oben im Schlafzimmer seine Liegestütze machen und annehmen, dass sie unten in der Küche sein Frühstück zubereitete. Freitag, Bücklingtag. Der Bückling lag in Zeitungspapier gewickelt in der Vorratskammer. Er wäre wütend.
Als sie in Euston aus dem Zug stieg, hätten ihr beinahe die Beine versagt. Die Leute machten einen großen Bogen um sie, und sie hatte Angst, dass kein Taxi sie fahren würde, doch als sie das Geld vorzeigte, durfte sie einsteigen. Sie fuhren schweigend durch London, in dem es nachts geregnet hatte, und jetzt glänzten die Steine der Häuser in den ersten Sonnenstrahlen, und der milde, leicht bewölkte frühe Morgen schimmerte in Pink- und Blautönen. Sie hatte vergessen, wie sehr sie London mochte. Ihre Stimmung hob sich. Sie hatte beschlossen zu leben, und jetzt wollte sie nichts mehr als das.
Der Taxifahrer half ihr beim Aussteigen. »Sind Sie hier wirklich richtig, Miss?«, fragte er und blickte zweifelnd zu dem großen Backsteingebäude in der Melbury Road. Sie nickte wortlos.
Es war zwangsläufig die richtige Adresse.
Sie klingelte, und die Tür wurde geöffnet. Beim Anblick von Ursulas Gesicht flog Izzies Hand vor Entsetzen an ihren Mund. »Oh, mein Gott. Was ist passiert? «
»Mein Mann hat versucht, mich umzubringen.«
»Dann komm rein«, sagte Izzie.
Langsam, ganz langsam heilten die Verletzungen. »Kampfwunden«, sagte Izzie.
Izzies Zahnarzt richtete Ursulas Zähne, und eine Weile lang musste sie den rechten Arm in einer Schlinge tragen. Ihre Nase war wieder gebrochen, und die Wangenknochen und der Kiefer waren angebrochen. Sie war mängelbehaftet, nicht mehr intakt. Andererseits fühlte sie sich, als wäre sie gründlich gereinigt. Die Vergangenheit drückte nicht mehr so schwer auf die Gegenwart. Sie schickte eine Nachricht nach Fox Corner, dass sie »mit Derek einen Wanderurlaub in den Highlands« machte. Sie war sicher, dass Derek sich nicht in Fox Corner melden würde. Er würde irgendwo seine Wunden lecken. In Barnet vielleicht. Gott sei Dank, wusste er nicht, wo Izzie lebte.
Izzie war erstaunlich mitfühlend. »Bleib, solange du willst«, sagte sie. »Dann muss ich hier eine Weile nicht allein rumgeistern. Und Gott weiß, ich habe mehr Geld als genug, um dich durchzufüttern. Lass dir Zeit«, fügte sie hinzu. »Keine Eile. Und du bist ja erst dreiundzwanzig.« Ursula wusste nicht, was überraschender war – Izzies ungeheuchelte Gastfreundschaft oder dass sie sich an ihr Alter erinnerte. Vielleicht hatte Belgravia auch Izzie verändert.
Ursula war allein, als eines Abends Teddy vor der Tür stand. »Du bist schwer zu finden«, sagte er und drückte sie fest an sich. Ursulas Herz machte vor Freude einen Satz. Irgendwie wirkte Teddy immer realer als andere Leute. Er war gebräunt und kräftig, weil er während der langen Sommerferien auf dem Bauernhof von Ettringham Hall gearbeitet hatte. Vor kurzem hatte er verkündet, dass er Bauer werden wollte. »Dann will ich das Geld zurück, das ich für deine Ausbildung bezahlt habe«, sagte Sylvie – aber sie lächelte, weil Teddy ihr Liebling war.
»Ich glaube, es war mein Geld«, sagte Hugh. (Hatte Hugh ein Lieblingskind? »Du bist es, glaube ich«, sagte Pamela.)
»Was ist mit deinem Gesicht
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