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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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hatte ihn ganz vergessen. Auch er war in der Argyll Road gewesen. War er noch da, als die Bombe einschlug? Ursula bemühte sich, den Kopf zu bewegen, um sich umzusehen, als könnte sie ihn unter den Trümmern entdecken. Es war niemand da, sie war allein. Allein und eingesperrt in einem Käfig geborstener Holzbalken und gebrochener Dachsparren, der Staub ließ sich überall nieder, in ihrem Mund, ihrer Nase, ihren Augen. Nein, Ralph war bereits gegangen, als die Sirenen zu heulen anfingen.
    Ursula schlief nicht länger mit dem Mann von der Admiralität. Die Kriegserklärung hatte bei ihrem Liebhaber ein plötzliches Aufwallen von Schuldgefühlen zur Folge. Sie müssten ihre Affäre beenden, sagte Crighton. Die Versuchungen des Fleisches waren offenbar martialischen Bestrebungen untergeordnet – als wäre sie Kleopatra, die aus Liebe ihren Antonius vernichten wollte. Wie es schien, war die Welt jetzt aufregend genug ohne die zusätzlichen Risiken, die »die Haltung einer Mätresse« mit sich brachte. »Ich bin eine Mätresse?«, sagte Ursula. Sie hatte sich nicht für jemanden gehalten, die einen scharlachroten Buchstaben trug, eine Kategorie, die einer rassigeren Frau zustand.
    Der Balanceakt war gescheitert. Crighton hatte gewankt. Und war offenbar gestrauchelt. »Na gut«, hatte sie gleichmütig gesagt. »Wenn du es so willst.« Zu diesem Zeitpunkt vermutete sie bereits, dass sich kein anderer, faszinierenderer Crighton unter der rätselhaften Oberfläche verbarg. Er war schließlich doch nicht so undurchschaubar. Crighton war Crighton – Moira, die Mädchen, Jütland, wenn auch nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge.
    Obwohl die Affäre auf sein Betreiben hin beendet wurde, war er erschüttert. Sie nicht? »Du bist sehr gelassen«, sagte er.
    Aber sie sei nie »verliebt« in ihn gewesen, sagte sie. »Und ich denke doch, dass wir Freunde bleiben können.«
    »Ich glaube nicht, dass wir das können«, sagte Crighton, bereits von Wehmut erfüllt für das, was jetzt Geschichte war.
    Nichtsdestotrotz hatte sie den nächsten Tag damit verbracht, pflichtbewusst ihren Verlust zu beweinen. Dass sie ihn mochte, war kein flüchtiges Gefühl gewesen, wie Pamela zu glauben schien. Dann trocknete sie die Tränen, wusch sich das Haar und legte sich mit einem Teller Bovril auf Toast und einer Flasche 1929 Château Haut-Brion ins Bett, die sie aus Izzies exzellentem Weinkeller in der Melbury Road entwendet hatte. Ursula hatte die Schlüssel zu Izzies Haus. »Nimm, was immer du findest«, hatte Izzie gesagt. Das tat sie.
    Aber es war eine Schande, dachte Ursula, dass sie keine Verabredungen mit Crighton mehr hatte. Der Krieg erleichterte Ehebruch. Die Verdunkelung war die perfekte Tarnung für heimliche Affären, und die Bombardierungen – als sie endlich begannen – hätten jede Menge Ausreden geliefert, um nicht nach Wargrave zu Moira und den Mädchen zu fahren.
    Stattdessen hatte Ursula eine absolut korrekte Beziehung mit einem Mitschüler aus ihrem Deutschkurs. Nach der ersten Stunde (Guten Tag. Mein Name ist Ralph. Ich bin dreißig Jahre alt) waren sie in das Kardomah in der Southampton Row gegangen, das dieser Tage hinter einer Mauer aus Sandsäcken fast nicht zu sehen war. Wie sich herausstellte, bearbeitete er in demselben Gebäude wie sie die Karten, auf denen die Bombeneinschläge verzeichnet waren.
    Erst als sie den Unterrichtsraum verließen – ein stickiges Zimmer im dritten Stock in Bloomsbury –, bemerkte Ursula, dass Ralph hinkte. Verwundet bei Dünkirchen, sagte er, bevor sie fragen konnte. Ins Bein geschossen, während er im Wasser darauf wartete, in eins der kleinen Boote zu steigen, die zwischen der Küste und den größeren Booten hin und her fuhren. Er wurde von einem Fischer aus Folkstone ins Boot gezogen, dem Minuten später in den Nacken geschossen wurde. »So«, sagte er zu Ursula, »jetzt müssen wir nicht noch einmal darüber reden.«
    »Nein, vermutlich nicht«, sagte Ursula. »Aber es ist schrecklich.« Sie hatte natürlich die Wochenschau gesehen. »Wir haben mit schlechten Karten gut gespielt«, sagte Crighton. Ursula war ihm kurz nach der Evakuierung der Truppen in Whitehall über den Weg gelaufen. Er vermisse sie, sagte er. (Er wankt wieder, dachte sie.) Ursula bewahrte entschlossen Haltung, erklärte, dass sie Berichte ins Büro des Kriegskabinetts bringen müsse, und drückte braungelbe Mappen an die Brust wie einen Kürass. Auch sie vermisste ihn. Es schien wichtig, ihn das

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