Die Unvollendete: Roman (German Edition)
nicht spüren zu lassen.
»Du arbeitest für das Kriegskabinett?«, fragte Crighton beeindruckt.
»Für die Assistentin eines Staatssekretärs. Eigentlich nicht einmal für die Assistentin, sondern für ein ›Mädchen‹ wie ich.«
Das Gespräch hatte lange genug gedauert, entschied sie. Er sah sie auf eine Weise an, dass sie gern seine Arme um sich gespürt hätte. »Ich muss weiter«, sagte sie fröhlich, »wie du weißt, herrscht Krieg.«
Ralph war aus Bexhill, ein bisschen boshaft, links, Utopist. (»Sind nicht alle Sozialisten Utopisten?«, fragte Pamela.) Ralph war ganz anders als Crighton, der im Rückblick etwas zu mächtig gewesen war.
»Ein Roter macht dir den Hof?«, fragte Maurice, der ihr in den heiligen Hallen über den Weg lief. Sie hatte das Gefühl, dass er sie gesucht hatte. »Sieht vielleicht nicht gut aus, wenn es jemand erfährt.«
»Er ist kein Kommunist mit Parteibuch«, sagte sie.
»Trotzdem«, sagte Maurice. »Zumindest wird er im Bett nicht die Positionen von Kriegsschiffen verraten.«
Was sollte das heißen? Wusste Maurice von Crighton?
»Dein Privatleben ist nicht privat, nicht solange Krieg ist«, sagte er und blickte angewidert drein. »Und warum lernst du eigentlich Deutsch? Wartest du auf die Invasion? Willst du den Feind willkommen heißen?«
»Ich dachte, du hättest mir gerade vorgeworfen, dass ich Kommunistin bin, nicht Faschistin«, sagte Ursula verärgert. (»Was für ein Idiot«, sagte Pamela. »Er hat eine Heidenangst vor allem, was ein schlechtes Licht auf ihn werfen könnte. Ich will ihn nicht verteidigen. Gott bewahre.«)
Von ihrer Position am Grund des Brunnens konnte Ursula sehen, dass ein Großteil der dünnen Mauer zwischen ihrer und Mrs. Appleyards Wohnung verschwunden war. Wenn sie durch die gesplitterten Bodendielen und geborstenen Balken nach oben blickte, sah sie ein schlappes Kleid an einem Kleiderbügel hängen, der seinerseits an einer Bilderschiene hing. Es war die Bilderschiene im Wohnzimmer der Millers im Erdgeschoss, Ursula erkannte die Tapete mit den schwülstigen gelblichen Rosen. Erst am Abend hatte sie Lavinia Nesbit in dem Kleid im Treppenhaus getroffen, es war erbsengrün (und ebenso schlapp) gewesen. Jetzt war es bombenstaubgrau und ein Stockwerk nach unten gewandert. Ein paar Meter von ihrem Kopf entfernt sah sie ihren eigenen Wasserkessel, ein großes braunes Ding, der in Fox Corner nicht mehr gebraucht worden war. Sie erkannte ihn an der dicken Schnur, die Mrs. Glover vor langer Zeit um den Griff gewickelt hatte. Alles war jetzt am falschen Ort, auch sie selbst.
Ja, Ralph war in der Argyll Road gewesen. Sie hatten gegessen – Brot und Käse – und dazu eine Flasche Bier getrunken. Dann hatte sie das Kreuzworträtsel im Telegraph von gestern gemacht. Ursula war gezwungen gewesen, sich eine Lesebrille zuzulegen, ein ziemlich hässliches Ding. Erst als sie sie nach Hause mitgenommen hatte, bemerkte sie, dass sie nahezu identisch war mit der Brille, die eine Miss Nesbit trug. War das auch ihr Schicksal, überlegte sie und betrachtete sich mit Brille im Spiegel über dem Kamin? Würde auch sie als alte Jungfer enden? Sport für Jungen wie für Mädchen. Und konnte man eine alte Jungfer werden, wenn man den scharlachroten Buchstaben getragen hatte? Gestern war auf geheimnisvolle Weise ein Umschlag auf ihrem Schreibtisch aufgetaucht, während sie in der Mittagspause ein Sandwich im St. James Park gegessen hatte. Sie sah ihren Namen in Crightons Handschrift (er hatte eine überraschend schöne kursive Handschrift), zerriss den Umschlag und warf die Fetzen in den Papierkorb, ohne ihn zu lesen. Später, als alle Büroassistentinnen sich wie Tauben um den Teewagen scharten, hatte sie die Stücke wieder herausgeholt und zusammengesetzt.
Ich habe mein goldenes Zigarettenetui verlegt. Du kennst es – mein Vater hat es mir nach Jütland geschenkt. Du hast es nicht zufälligerweise gefunden?
Dein C.
Aber er war nie ihrer gewesen. Im Gegenteil, er gehörte Moira. (Oder vielleicht der Admiralität.) Sie warf die Fetzen erneut in den Papierkorb. Das Zigarettenetui befand sich in ihrer Handtasche. Sie hatte es, ein paar Tage nachdem er sie verlassen hatte, unter ihrem Bett gefunden.
»Einen Penny für deine Gedanken«, sagte Ralph.
»Sie sind es nicht wert, glaub mir.«
Ralph lag neben ihr, sein Kopf auf der Armlehne des Sofas, seine Füße auf ihrem Schoß. Obwohl er zu schlafen schien, murmelte er jedes Mal eine Antwort, wenn sie eine
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