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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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ist.« Izzies Haus in Holland Park war jetzt zugesperrt, die Einrichtung mit weißen Tüchern bedeckt. Sie hatte einen berühmten Bühnenautor geheiratet und war mit ihm im Sommer nach Kalifornien gezogen. (»Feiglinge, die beiden«, sagte Sylvie.
    »Ach, ich weiß nicht«, sagte Hugh, »wenn ich den Krieg in Hollywood aussitzen könnte, würde ich es auch tun.«)
    »Das ist interessante Musik, die Sie da hören«, sagte Mrs. Appleyard zu Ursula, als sie sich eines Tages auf der Treppe über den Weg liefen. Die Mauer zwischen ihren Wohnungen war dünn wie Papier, und Ursula sagte: »Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht stören«, obschon sie sehr wohl hätte hinzufügen können, dass sie Mrs. Appleyards Baby Tag und Nacht aus Leibeskräften plärren hörte, und das war in der Tat sehr störend. Das Baby war vier Monate alt und groß für sein Alter, dick und gesund, als hätte es alles Leben aus Mrs. Appleyard gesaugt.
    Mrs. Appleyard – das Schwergewicht des schlafenden Babys in den Armen, sein Kopf an ihrer Schulter – winkte ab und sagte: »Machen Sie sich keine Gedanken, es stört mich nicht.« Sie war auf schwermütige Weise osteuropäisch, ein Flüchtling vermutlich, auch wenn ihr Englisch präzise war. Mr. Appleyard war ein paar Monate zuvor verschwunden, vielleicht hatte er sich zum Militärdienst gemeldet, Ursula hatte nicht nachgefragt, da die Ehe eindeutig (und hörbar) unglücklich gewesen war. Mrs. Appleyard war schwanger, als ihr Mann sie verließ, und er war, soweit Ursula wusste (oder hörte) nie zurückgekommen, um sein schreiendes Kind in Augenschein zu nehmen.
    Mrs. Appleyard musste einst hübsch gewesen sein, aber sie wurde jeden Tag dünner und trauriger, bis es schien, dass nur noch die (sehr) solide Last des Babys und seine Bedürfnisse sie an den Alltag fesselten.
    In dem Bad im ersten Stock, das sie teilten, stand immer ein emaillierter Eimer, in dem die stinkenden Windeln des Babys einweichten, bevor Mrs. Appleyard sie in einem Topf auf ihrem kleinen Gasherd auskochte. Daneben köchelte für gewöhnlich ein Topf mit Kohl, und wohl als Folge davon haftete ihr immer der schwache Geruch nach altem Gemüse und feuchter Wäsche an. Ursula kannte das Aroma, es war der Geruch der Armut.
    Die Misses Nesbit, die ganz oben nisteten, machten immer ein großes Aufheben um Mrs. Appleyard und das Baby, so wie es alte Damen gern tun. Die beiden Nesbits, Lavinia und Ruth, beide alte Jungfern, wohnten auf dem Dachboden (»unter den Giebeln wie die Schwalben«, zwitscherten sie). So wenig, wie sie sich unterschieden, hätten sie auch Zwillinge sein können, und Ursula musste sich große Mühe geben, um sie auseinanderzuhalten.
    Sie waren seit langem pensioniert – beide hatten als Telefonistinnen bei Harrods gearbeitet – und lebten frugal, ihr einziger Luxus war eine beeindruckende Sammlung Modeschmuck, den sie überwiegend in ihrer Mittagspause »während der arbeitsamen Jahre« bei Woolworths gekauft hatten. Ihre Wohnung roch im Gegensatz zu der von Mrs. Appleyard nach Lavendel und Möbelpolitur der Marke Mansion House – es war der Duft alter Damen. Manchmal kaufte Ursula für die Nesbits und Mrs. Appleyard ein. Mrs. Appleyard stand immer an der Tür mit dem exakten Betrag, den sie schuldete (sie wusste genau, was alles kostete), und einem höflichen »Danke«, doch die Nesbits versuchten immer, sie mit schwachem Tee und alten Keksen in ihre Wohnung zu locken.
    Unter ihnen im zweiten Stock wohnte Mr. Bentley (»ein wunderlicher Fisch«, darin waren sich alle einig), dessen Wohnung (passenderweise) nach dem geräucherten Schellfisch roch, den er zum Abendessen in Milch kochte, und neben ihm die unnahbare Miss Hartnell (deren Wohnung nach gar nichts roch), die als Haushälterin im Hyde Park Hotel arbeitete und sehr streng auftrat, als dürfte nichts hoffen, ihren Standards zu genügen. Sie vermittelte Ursula das Gefühl ausgesprochener Unzulänglichkeit.
    »Ich glaube, sie ist enttäuscht von der Liebe«, flüsterte Ruth Nesbit Ursula zur Schadensminderung zu und drückte die vogelknochige Hand gegen die Brust, als könnte ihr eigenes schwaches Herz heimlich davonfliegen und sich an einen unpassenden Mann klammern. Beide Misses Nesbit waren höchst sentimental, was die Liebe betraf, da sie nie ihre Härten erfahren hatten. Miss Hartnell wirkte, als würde sie eher Enttäuschungen bereiten, als selbst welche erleben.
    »Ich habe auch ein paar Schallplatten«, sagte Mrs. Appleyard

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