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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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mit dem Ernst einer Verschwörerin. »Aber, leider, kein Grammophon.« Mrs. Appleyards »leider« schien belastet mit der ganzen Tragödie eines kaputten Kontinents. Es konnte die Bürde, die man ihm auferlegte, kaum tragen.
    »Bitte, kommen Sie doch und hören Sie sie bei mir«, sagte Ursula und hoffte, dass die geknechtete Mrs. Appleyard das Angebot ablehnen würde. Sie fragte sich, was für Musik Mrs. Appleyard besaß. Es konnte unmöglich etwas Vergnügliches sein.
    »Brahms«, sagte Mrs. Appleyard und beantwortete die nicht gestellte Frage. »Und Mahler.« Das Baby bewegte sich nervös, als würde es die Aussicht auf Mahler beunruhigen. Wann immer Ursula Mrs. Appleyard im Hausflur traf, schlief das Baby. Es war, als gäbe es zwei Babys, das eine in der Wohnung, das nie zu weinen aufhörte, und das andere außerhalb davon, das nicht damit anfing.
    »Würden Sie Emil einen Moment halten, während ich meine Schlüssel suche?«, fragte Mrs. Appleyard und gab ihr das unförmige Kind, ohne eine Antwort abzuwarten.
    »Emil«, murmelte Ursula. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass das Baby einen Namen hatte. Emil war wie immer gekleidet, als herrschte arktischer Winter, Windeln und Gummihose, Strampelanzug und alle möglichen handgestrickten Kleidungsstücke mit Bändern. Ursula waren Babys nicht fremd, sie und Pamela hatten Teddy und Jimmy mit der gleichen Begeisterung bemuttert wie Welpen und Kätzchen und Kaninchen, und sie war der Inbegriff der liebenden Tante für Pamelas Jungen, aber Mrs. Appleyards Baby gehörte in eine weniger ansprechende Kategorie. Die Todd-Babys dufteten nach Milch und Puder und der frischen Luft, in der ihre Kleidung trocknete, doch Emil hatte einen leichten Hautgout.
    Mrs. Appleyard kramte in ihrer großen, abgewetzten Handtasche, die ebenfalls aussah, als käme sie aus einem fernen Land (von dem Ursula nichts wusste) und hätte ganz Europa durchquert, nach dem Schlüssel. Als sie ihn ganz unten in der Tasche fand, seufzte sie laut. Das Baby, das vielleicht die Nähe der Schwelle spürte, wand sich in Ursulas Armen, als würde es sich auf den Übergang vorbereiten. Es schlug die Augen auf und blickte zänkisch drein.
    »Danke, Miss Todd«, sagte Mrs. Appleyard und nahm das Baby wieder an sich. »Es war nett, sich mit Ihnen zu unterhalten.«
    »Ursula«, sagte Ursula. »Bitte, nennen Sie mich Ursula.«
    Mrs. Appleyard zögerte, bevor sie nahezu schüchtern sagte: »Eryka. E-r-y-k-a.« Sie wohnten jetzt seit einem Jahr Tür an Tür, aber so nahe waren sie sich nie zuvor gekommen.
    Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, fing das Baby wie gewöhnlich an zu brüllen. »Sticht sie ihn mit Stecknadeln?«, schrieb Pamela. Pamela produzierte friedliche Babys. »Sie werden erst mit zwei wild«, sagte sie. Sie hatte kurz vor Weihnachten einen weiteren Jungen, Gerald, geboren. »Nächstes Mal hast du mehr Glück«, sagte Ursula, als sie sie besuchte. Sie war mit dem Zug nach Norden gefahren, um sich den Neuankömmling anzusehen. Es war eine lange, unangenehme Fahrt gewesen, die meiste Zeit verbrachte sie im Schaffnerabteil, der Zug war vollgepackt mit Soldaten auf dem Weg in ein Ausbildungslager. Sie war mit sexuellen Anspielungen bombardiert worden, die anfänglich amüsant und dann lästig gewesen waren. »Nicht gerade sanfte edle Ritter«, sagte sie zu Pamela, nachdem sie endlich angekommen war. Der letzte Teil der Reise erfolgte auf einer Eselskarre, als wäre die Zeit in ein anderes Jahrhundert, in ein anderes Land gerutscht.
    Die arme Pamela hatte den Sitzkrieg und das Eingesperrtsein mit so vielen kleinen Jungen – wie »die Hausmutter in einem Jungeninternat« – satt. Ganz zu schweigen von Jeanette, die sich als »Faulenzerin« (und als Miesepeter und Schnarcherin) erwiesen hatte. »Von der Tochter eines Vikars hätte ich mehr erwartet«, schrieb Pamela, »auch wenn ich nicht weiß, warum.« Im Frühling war sie nach Finchley zurückgekehrt, doch als die nächtlichen Bombenangriffe begannen, war sie »für die Dauer« mit ihrer Brut nach Fox Corner gezogen trotz der früheren Bedenken, mit Sylvie zusammenzuwohnen. Harold, jetzt im St. Thomas, arbeitete gewissermaßen an vorderster Front. Das Schwesternwohnheim war vor ein paar Wochen von einer Bombe getroffen worden, und fünf Krankenschwestern waren dabei umgekommen. »Jede Nacht ist die Hölle«, berichtete Harold. Genau das Gleiche sagte Ralph von den bombardierten Gebäuden.
    Ralph! Natürlich, Ralph. Ursula

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