Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Bestandteile zu zerlegen. Zum einen der Mief des Hausgase, zum anderen der Abwassergestank, der entsetzlich ekelerregend war und sie würgen ließ. Dazu kam der vielschichtige Cocktail aus feuchtem altem Verputz und Ziegelstaub, darunter Spuren menschlicher Behausung – Tapeten, Kleider, Bücher, Essen – und der saure fremde Geruch des Sprengstoffs. Kurz gesagt, die Essenz eines toten Hauses.
Ihr war, als liege sie auf dem Grund eines tiefen Brunnens. Durch einen dichten Staubschleier sah sie wie durch Nebel ein Stück schwarzen Himmel und den Mond in Form eines abgeschnittenen Fingernagels, den sie auch früher am Abend durch das Fenster gesehen hatte. Das schien vor langer Zeit gewesen zu sein.
Das Fenster oder zumindest der Fensterrahmen war noch da, hoch, hoch über ihr und nicht, wo er eigentlich sein sollte. Es war eindeutig ihr Fenster, sie erkannte die Vorhänge, jetzt versengte Fetzen, die in der Brise flatterten. Sie waren aus einem dicken Brokat mit Jacquardmuster – gewesen –, den Sylvie mit ihr bei John Lewis ausgesucht hatte. Sie hatte die Wohnung in der Argyll Road möbliert gemietet, aber Sylvie befand die Vorhänge und Teppiche für »vollkommen lumpig«, und Ursula musste sie gegen neue austauschen.
Damals hatte Millie vorgeschlagen, dass sie zu ihr nach Phillimore Gardens ziehen sollte. Millie spielte noch immer die naiven Rollen und behauptete, dass sie, wenn sie nicht mehr als Julia besetzt würde, sofort Julias Amme spielen müsste. »Es wäre doch ein Spaß«, sagte Millie, »zusammenzuwohnen.« Aber Ursula war sich nicht ganz sicher, ob Millies Vorstellung von Spaß mit ihrer übereinstimmte. Sie kam sich angesichts von Millies hellem Strahlen oft langweilig und besonnen vor. Eine Heckenbraunelle neben einem Eisvogel. Und manchmal brannte Millie ein bisschen zu lichterloh.
Das war kurz nach München, und Ursula hatte bereits ihre Affäre mit Crighton begonnen, und es schien praktischer, allein zu wohnen. Im Rückblick wurde ihr klar, dass sie weit mehr Rücksicht auf Crightons Bedürfnisse genommen hatte als er auf ihre, als würden Moira und die Mädchen ihre Existenz übertrumpfen.
Denk an Millie, sagte sie sich, denk an die Vorhänge, denk an Crighton, wenn es sein muss. An alles, nur nicht an ihre missliche Lage. Vor allem nicht an das Gas. Es schien besonders wichtig, nicht an das Gas zu denken.
Nach dem Erwerb von Vorhängen und Teppichen hatten Sylvie und Ursula nachmittags Tee im Restaurant von John Lewis getrunken, der von einer verbissen effizienten Kellnerin serviert wurde. »Ich bin immer so froh«, murmelte Sylvie, »dass ich nicht so tun muss, als wäre ich jemand anders.«
»Du bist sehr gut darin, du selbst zu sein«, sagte Ursula wohl wissend, dass es nicht notwendigerweise nach einem Kompliment klang.
»Nun, ich habe auch jahrelang geübt.«
Es war ein sehr guter Nachmittagstee, wie man ihn in Kaufhäusern nicht mehr bekam. Und dann war John Lewis zerbombt worden, und jetzt war es nur noch ein schwarzer zahnloser Schädel von einem Gebäude. (»Wie schrecklich«, schrieb Sylvie, betroffen auf eine Weise, wie sie es von den fürchterlichen Angriffen auf das East End nie gewesen war.) Innerhalb von Tagen war das Geschäft wieder eröffnet, »Blitz spirit« sagten die Leute, aber gab es eine Alternative?
Sylvie war an jenem Tag gut gelaunt gewesen, und sie waren sich nähergekommen dank der Vorhänge und der Dummheit der Leute, die glaubten, dass Chamberlains albernes kleines Abkommen irgendeine Bedeutung hätte.
Es war sehr still, und Ursula fragte sich, ob ihre Trommelfelle geplatzt waren. Wie war sie hierhergekommen? Sie erinnerte sich, dass sie in der Argyll Road aus dem Fenster – das Fenster, das jetzt so weit weg war – geschaut und die Mondsichel gesehen hatte. Und davor hatte sie auf dem Sofa gesessen, genäht, den Kragen einer Bluse gewendet, und einen deutschen Kurzwellensender im Radio gehört. Sie machte abends einen Deutschkurs (kenne deinen Feind) , doch sie hatte Mühe, abgesehen von vereinzelten rabiaten Substantiven (Luftangriffe, Verluste) etwas zu verstehen. Aus Verzweiflung über ihre mangelnden Sprachkenntnisse hatte sie das Radio ausgeschaltet und Ma Rainey aufgelegt. Bevor sie nach Amerika gegangen war, hatte Izzie Ursula ihre Plattensammlung vermacht, ein beeindruckendes Archiv amerikanischer Bluessängerinnen. »Ich höre das Zeug nicht mehr«, sagte Izzie. »Es ist passé. Die Zukunft gehört einer Musik, die mehr soigné
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