Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Zerstreutheit jetzt ist schon eine Sünde. Nach dem Unterricht gehst du in die Kapelle und betest zehn Ave-Maria und zehn Vaterunser! Damit du lernst zuzuhören, wenn man dich tadelt.«
Das Böse! Das Böse! Sicher, wenn sie so redete, war sie richtig langweilig, und auch ihr Gesicht verzog sich zu einer hageren Grimasse. Deshalb wandte Modesta den Blick ab, um sie nicht so sehen zu müssen: Sie wollte sie nur schön sehen.
»Modesta! Wo schaust du denn hin? Hörst du mir überhaupt zu?«
»Ja, Madre.«
Man mußte bloß Geduld haben, auch weil diese häßlichen Wörter wie das Böse, die Hölle, Gehorsam und Sünde schon bald wieder verschwanden. Sie wußte, wie sie diesen Klagen ein Ende setzen konnte: Es genügte, den Blick zu senken und zu weinen. Das war zwar etwas mühsam, aber danach würde Madre Leonoras Stimme bald wieder in ihrer gewohnten Sanftheit erklingen und all die schönen Wörter sagen wie unendlich, azurblau, sanft, paradiesisch, Magnolien …
Wie herrlich die Namen der Blumen waren: Geranien, Hortensien, Jasmin, was für ein wunderbarer Klang! Wenn sie ihr dann diese Wörter auf das weiße Papier schrieb, schwarz auf weiß, würde sie sie nicht mehr verlieren, würde sie sie nicht mehr vergessen. Sie gehörten ihr, nur noch ihr. Sie hatte sie gestohlen, gestohlen aus all diesen Büchern durch den Mund von Madre Leonora.
8
Und sie mußte immer weiter stehlen und so viele wie möglich sammeln, auch hier in diesem riesigen Raum voller vergoldeter Möbel, den sie Salon nannten, dem einzigen Zimmer des Klosters mit großen Fenstern. Zwischen all dem Goldglanz verbarg das Schwarz des Klaviers kostbare Noten und Rhythmen, nach denen man mit beiden Händen greifen mußte. Es reichte, der Stimme von Schwester Teresa zu folgen, die nicht so sanft wie die von Madre Leonora war, sondern, ehrlich gesagt, ziemlich mißtönend:
»Heute wollen wir nach den Übungen am Klavier Noten schreiben lernen … Aber was hast du denn heute morgen, Picciridda? Deine Augen glänzen ja wie die der Jungfrau Maria, als die Engel sie in die ewige Seligkeit hinaufgeführt haben. Ach ja, die Jugend, wie schön und strahlend sie doch ist.«
»Das ist nicht die Jugend, Schwester Teresa, sondern Madre Leonora, die mir heute abend nach monatelangen Vertröstungen endlich die Sterne zeigen will.«
»Das freut mich. Siehst du, wenn du gehorchst und fleißig bist, wirst du sofort belohnt.«
Eigentlich nicht sofort. Monatelang hatte ich an dem vermaledeiten Stickrahmen unter den Hexenaugen der vermaledeiten Schwester Angelica geschuftet.
»Nur das Gute schafft Gutes! Und heute abend wirst du … heute abend ist es soweit, nicht wahr? Du gehst mit ihr an den Ort, an den keine von uns je ihren Fuß gesetzt hat. Eigentlich müßte ich sagen, ihr Auge, denn es geht ja um die Augen.«
»Auch Ihr nicht, Schwester Teresa?«
»Um Himmels willen! Ganz abgesehen davon, daß mirschwindelig würde und ich sicher sofort herunterfiele, wenn ich dieses Eisentreppchen rings um das schmale Türmchen hinaufsteigen müßte. Und wie schmal es ist! Vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber wenn ein Wind geht, kommt es mir vor, als schwankte es wie eine Fahnenstange. Außerdem leide ich nicht an Insomnie. Ich schlafe nachts, Gott sei’s gedankt, und würde meinen Schlaf nicht gegen alle Sterne am Firmament eintauschen.«
»Hat das denn etwas mit der Insomnie zu tun, wenn ich mir die Frage erlauben darf?«
»Natürlich hat das etwas damit zu tun. Und bei mir brauchst du dich nicht so zu zieren. Erlauben, nicht erlauben. Spar dir diese ganze Etikette für Madre Leonora auf.«
»Und was hat das mit der Insomnie zu tun?«
»Es hat etwas damit zu tun.«
»Und wieso?«
»Wenn ich dir sage, daß es etwas damit zu tun hat, dann hat es etwas damit zu tun. Du bist mir ein schöner Dickkopf. Jetzt aber zurück zu unseren Übungen, vergiß die Insomnie und spiele.«
»Aber ist die Insomnie nicht dieses Übel, das einen nachts befällt und nicht schlafen läßt?«
»Sicher! Es ist das Übel, das dir mit eisernen Krallen die Lider offenhält und dich kein Auge schließen läßt oder, wie man sagt, dir nicht den Segen des Schlafes gewährt.«
»Aber ist es nicht das Übel, das Gott denen schickt, die eine Todsünde begangen haben?«
»Ach was! Wer hat dir denn diesen Unsinn erzählt? Oh, du hast doch wohl nicht etwa mit dem Gärtner gesprochen?«
Ich hatte zwar mit Mimmo gesprochen, antwortete aber schnell:
»Nein, nein, da sei Gott vor! Ich rede
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