Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
Vom Netzwerk:
Gnade, unterrichten zu dürfen, und vor allem dich, hört nur, was für ein Anschlag! Der Anschlag eines Engels, aber jetzt reicht es, genug. Wir müssen mit den Noten anfangen. Komm einmal hierher zu mir. Siehst du das Blatt mit den Linien? Die hat die Novizin vom Festland gezogen. Jetzt mußt du sie ausfüllen … Nein, nein, tu so, als würdest du einen Mund zeichnen. Genau, zuerst die Umrisse: fest aufdrücken …«
    Die Umrisse dieser Noten, die sich unter dem Druck meiner Finger zwischen den Linien abzeichneten, dortgefangen waren, würde mir keiner mehr wegnehmen können. Sie gehörten mir, ich hatte sie gestohlen wie die Adjektive, Substantive, die Verben, die Adverbien …

9
    Und sie mußte noch mehr davon stehlen und so viele wie möglich auf dem linierten Papier der Hefte sammeln. Außerdem die vielen Zahlen, die mit den Wörtern, den Noten und den Sternen zusammenhingen. Die Sterne! In jener Nacht waren die Sterne so nahe gewesen, daß sie gemeint hatte, sie mit den Händen greifen zu können. Auf dem schmalen, furchterregend hohen Turm – ein gegen den Himmel gereckter Finger? – hatte Madre Leonora ihr durch das Fernrohr den Großen und den Kleinen Bären oder den Kleinen und den Großen Wagen und den strahlenden Sirius gezeigt: den strahlendsten Stern am Firmament.
    »Firmament! Was für ein schönes Wort, vielleicht das schönste Wort … das strahlendste Wort am Firmament der Wörter.«
    »Was hast du gesagt, Modesta? Wie wunderbar! Wie war das, mein Herz? Sag es noch einmal!«
    Und ich wiederholte es.
    »Wie wunderbar. Das klingt wie ein Gedicht. Du bist wirklich außergewöhnlich! Nicht nur intelligent, gewissenhaft und tüchtig, sondern dazu mit einer Phantasie begabt, die beinahe beängstigend ist! Du wirst einmal eine Dichterin werden: Nonne und Dichterin. Und so wirst du das Lob des Herrn singen!«
    Dichterin vielleicht, ja, aber mit der Nonne war ich nicht ganz einverstanden. Sicher, es ging mir im Klosternicht schlecht, man aß jeden Tag so, als sei Sonntag, und die Zimmer und die Bettlaken dufteten nach Zuckerwerk. Aber das ganze Leben lang hier?
    »Seit wie vielen Jahren seid Ihr hier, Madre?«
    »So fragt man nicht, Modesta! Wiederhole die Frage, wie es sich gehört.«
    »Vor wie vielen Jahren habt Ihr die Gelübde abgelegt, Madre Leonora?«
    »Gut! So ist es richtig. Du mußt dich in acht nehmen, Modesta. Manchmal hast du einen so weltlichen Ton – wer weiß, wo du den aufgeschnappt hast –, der einer zukünftigen Novizin nicht ansteht … Es ist viele Jahre her, daß ich in diese Insel des Friedens eingetreten bin. Wenn ich doch schon vorher eingetreten wäre, als ich so alt war wie du! In einem Alter, in dem man noch rein und keusch ist, so wie du, als du zu uns gekommen bist. Leider habe ich in einer eitlen Welt gelebt, in der das Wort Gottes fast keinen Platz hatte. Von diesen weltlichen Dingen dürfte ich eigentlich gar nicht sprechen, aber in diesem Fall ist es mir erlaubt, damit du verstehst, welche Gnade dir die Mutter Gottes erwiesen hat, als sie dich zu uns geführt hat, selbst wenn erst ein Unglück geschehen mußte. Dich hat sie sofort auserwählt, auch weil du aus bescheidenen Verhältnissen kommst und sie die Armen schützt, während der Weg für mich lang und schmerzhaft war, vielleicht weil einige Mitglieder meiner Familie vom rechten Glauben abgefallen waren. Jahrelang lebte ich in Überfluß und Leichtsinn, bis mich eine entsetzliche Schwermut befiel und mir meinen Irrtum bewußt machte, wie es auch jeden Sonntag mein Beichtvater tat, dem ich meine Rettung verdanke. Er hat gegen meine gesamte Familie gekämpft, um mich zu Gott zu führen. Meine Familie hat immer behauptet, daß meine Schwermut einerKrankheit des Körpers entspränge, der Blutarmut, wie sie sagten. Aber es war meine junge, reine Seele, die unter all dem Luxus und den unmoralischen, gottlosen Reden litt, in denen sich vor allem mein Onkel – Gott habe ihn selig – gefiel. Ich litt, ohne zu wissen, woran, hin und her gerissen zwischen den hehren, moralischen Worten meines Beichtvaters und der gelehrten Oberflächlichkeit der anderen. Auf dem Debütantinnenball dann erleuchtete mich die Mutter Gottes, zu der ich so lange gebetet hatte, und ließ mich das Übel erkennen, das keine Medizin hatte lindern können. Ein Übel, das sich in einer unendlichen Langeweile und Schwermut äußerte. Bis zum Tag vor dem Ball, was sage ich, bis zu dem Morgen selbst wußte ich nichts davon. Im Gegenteil, die freudigen

Weitere Kostenlose Bücher