Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
die – wie Madre Leonora sagte – sich mühten, das Wort Gottes auf der Erde zu verbreiten, auch ein Heer von Männern gab, die – immer Madre Leonora zufolge – der Segen der Menschheit waren. Später wurde mir klar, daß diese Männer im Rock genau jene Priester waren, von denen meine Mutter immer so ergeben gesprochen und die Tuzzus Vater gehaßt hatte: »Verdammtes Priesterschwein und Schlappschwanz von einem Pfaffen«, hatte er sie oft genannt. Was für häßliche Worte! Madre Leonora hatte recht gehabt, mich damals zu tadeln, aber da war ich ja auch gerade erst angekommen und vollkommen ahnungslos. Was hatte ich da überhaupt gesagt? Ach ja: so eine Sauerei. Seit jenem Tag gab ich ohne Bedauern alle häßlichen Wörter auf. Das war gar nicht so einfach, denn obwohl ich versuchte, sie zuvergessen, wollten sie mir nicht aus dem Kopf gehen. Und so dachte ich mir ein System aus, eine Disziplinierung – wie Madre Leonora es nennen würde (was für ein schönes Wort, Disziplinierung). Immer wenn ich merkte, daß sie meine Kehle hochstiegen, biß ich mir auf die Zunge. Der Schmerz ließ sie mich dann vergessen. Es tat mir nicht leid um sie. Von den rosigen und zarten Lippen Madre Leonoras, die ich manchmal berühren durfte, lernte ich so viele neue und schöne Wörter, daß mir in der ersten Zeit vor lauter Anstrengung, sie aufzuschnappen, ganz schwindelig wurde. Auch morgen früh, wer wußte, wie viele ich lernen würde … Ich muß schlafen, dann wird es ganz schnell wieder hell. Und bei Tagesanbruch würde Madre Leonora in diesem Zimmer, das mit Anrichten bis hinauf zur Decke vollgestellt war und dessen Fenster vor lauter Sauberkeit gar nicht dazusein schienen, zu erzählen beginnen, mit dem Zeigestock in der Hand, hoch aufgerichtet vor diesen riesigen Anrichten, in denen statt der Tassen, Teller und Becher wie in der von Mama lauter Bücher standen. Und in diesen Büchern steckten all die Wörter und Geschichten, die mich Madre Leonora lehrte. Wer wußte, ob sie die alle gelesen hatte?
»Was für eine Menge Bücher, Madre! Habt Ihr die alle gelesen?«
»Ach was, du kleine Närrin. Gewiß, ich habe studiert und weiß auch manches, aber ich bin keine Gelehrte. Einzig die Kirchenlehrer halten das ganze Wissen der Welt in Händen.«
»Ich will auch eine Gelehrte werden!«
»Du kleine Närrin! Wozu soll das einer Frau nützen? Die Frau kann nie soviel Weisheit erlangen wie der Mann.«
»Und was ist mit der heiligen Teresa?«
»Die heilige Teresa ist, wie uns das ›heilig‹ sagt, von Gott auserwählt worden, du kleine Närrin. Paß nur auf, daß du nicht in die Sünde des Hochmuts fällst. Ich sehe mit Freude, wie gern du lernst, und ich muß zugeben, daß dein Gedächtnis und dein Eifer weit über das normale Maß hinausgehen. Aber hüte dich, der Verstand kann dich in die schwarzen Fänge der Sünde treiben! Neben dem Lernen bete und sticke! Sticke und bete. Das Sticken erzieht zu Demut und Gehorsam, den einzig sicheren Waffen gegen die Sünde. Und wo wir schon einmal darüber sprechen: Schwester Angelica hat sich beschwert, daß du am Stickrahmen nicht so aufmerksam bist wie bei mir und am Klavier. Sie grämt sich sehr über deinen mangelnden Eifer. Bemühe dich bitte in Zukunft, sie zufriedenzustellen. Schwester Angelica beherrscht die Tugend der Demut weit besser als wir, und nur von ihren geduldigen Händen kannst du sie erlernen. Deine Intelligenz macht mir Angst … du bist eine Frau … eine Frau … Schwester Angelica …«
Wenn sie so redete, wurde ihre Stimme beinahe so schrill wie die der Mama. Aber es hatte keinen Zweck, ihr zu widersprechen, denn sie verstand sowieso nicht. Wie konnte ich bei Schwester Angelica fleißig sein? Sie war so häßlich, daß sie mich beinahe an Tina erinnerte. Das Klavierspiel war etwas anderes. Schwester Teresa war zwar weder schön noch häßlich, doch konnte sie mit den Händen erzählen. Sie entlockte der Tastatur so süße Klänge, daß mir beinahe war, als lauschte ich Madre Leonoras Stimme …
»Modesta, du hast mir ja überhaupt nicht zugehört! Du mußt besser aufpassen, wenn man dich tadelt. Das ist ein Zeichen, daß dir der Teufel zuzwinkert, um unsere Mühe zu untergraben, deine Zweige, die nach derDunkelheit statt nach dem Licht streben, zu begradigen. Ein Kind ist ein zartes Gewächs, das zur Schwäche und zum Spiel neigt. Nur wenn man es fest mit den Fäden der Disziplin bindet, wird es ohne Verbiegungen an Leib und Seele gerade wachsen. Deine
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