Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
sich dann mit einem ›Ich habe mich geirrt, Moira‹ von ihr ab, so erzählte er es jedenfalls allen.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter, glaube ich, bis er Olga aus Padua begegnete, vor fünf Jahren, auf dem Trottoir von Paris. Olga ist wunderschön, rund und zart, wie es die Mädchen italienisch-französischer Abstammung manchmal sind. Langer Hals, perfekt geformtes Gesicht, zwei feurigeAugen und ein Lächeln wie in Italien gemacht. Du weißt schon, eine dieser vendeuses 9 , die ihr Gehalt mit einem abendlichen Treffen hier und da etwas aufbessern, und die, wenn man sie in der Metro sieht, immer in irgendwelche Gedichte vertieft sind, vielleicht nur französische Gedichte, nie aber in diese Schmachtfetzen für junge Fräulein.«
»Ach! Dann war es diesmal wohl eine gute Begegnung?«
»O ja! Ein, eineinhalb Jahre lang war Olga die perfekte Verkörperung des Traums vom Huren-Proletariat, dem Jose seit frühester Jugend anhängt. Bei diesem Mädchen stimmte einfach alles, Vergangenheit und Gegenwart: der Vater Eisenbahner, also echter Arbeiteradel und keines dieser unbequemen, undurchschaubaren Elemente des Lumpenproletariats, die die Städte nach den Abfällen des geballten, nachlässigen Wohlstands durchforsten. Sie folgte Jose mit verzücktem Blick, lauschte geduldig unseren Diskussionen, während sie die Aschenbecher leerte und hin und wieder mit einem zustimmenden Blick oder einem seltenen, anerkennenden Lächeln kundtat, daß auch sie nun endlich auf dem Weg der Emanzipation und des Kampfes sei. Wenn Jose sie als ›meine Gefährtin‹ vorstellte, errötete sie voll Stolz … Und ich muß sagen, daß wir alle baß erstaunt waren, als wir erfuhren, daß sie sich mit François Gidot verlobt hatte, dem zukünftigen Mode-Zahnarzt, Sohn des sowieso schon steinreichen Zahnziehers Albert Gidot.«
»Und wie war sie an den gekommen?«
»Über Jose … Hast du François nicht kennengelernt? Du hast nichts verpaßt, obwohl Jose ihn jahrelang füreinen seiner besten Freunde hielt, aus dem Umfeld jener stolzen Pariser Demokraten, die zwar keine Genossen sind, aber immerhin doch die Revolution akzeptieren und über eine unnachahmliche clarté verfügen, welche ihnen erlaubt, jedes Problem bis ins Detail und mit sicherer Hand auszuweiden, sei es nun ethischer, ästhetischer oder meist önologischer Art.«
»Das ist ja unglaublich! Und Jose?«
»Oh, nichts weiter, er akzeptierte die Realität mit nicht minder olympischer, revolutionärer Klarsicht: Clarté gegen Clarté. Und obwohl er nicht zur Trauung ging, schickte er der jungen Madame Gidot einen großen Blumenstrauß. Jetzt träumt er sicherlich wieder zwischen zwei Versammlungen oder zwei Artikeln von wer weiß welchem Mädchengesicht, das die gesellschaftliche Ungerechtigkeit gezeichnet hat. Wir Neurotiker sind eben nicht zu ändern. So wie ich einfach nicht davon lassen kann, die giftige Milch der Zigarette in mich einzusaugen – hypothetische Brust einer noch hypothetischeren Mutterliebe, die ich nie erfahren habe –, so läuft er immer noch hinter seinem kindischen Traum her, der es ihm wahrscheinlich erlaubt, nur der leichten Liebe zu frönen als einer, wie soll ich sagen, bekannten und daher gut kontrollierbaren Nebensächlichkeit. Da kann man nichts machen, bei derlei Charakterneurosen ist es ratsam, nichts ändern zu wollen, denn das Risiko, das ein Heilungsversuch mit sich brächte, ist einfach zu groß, da arrangiert man sich lieber mit den kleinen Schäden, solange der Motor mehr oder minder rundläuft … Was ist, kleine Mehmet, dir sträubt sich das Fell, und du siehst mich aus glänzenden Augen an? Bist du wie Jose über meine ganz eigenen Theorien entsetzt, oder stört dich der Gedanke, daß auch ein Held wie er Schwächen hat?«
»Ich sagte ja schon, daß ich nicht an Helden glaube. Und was du von Jose erzählst, entsetzt mich beileibe nicht, vielmehr klingt es wie etwas, das ich schon immer geahnt habe. Es ist, als hättest du mir die Aussicht auf eine Landschaft eröffnet, die ich einst kannte und nur vergessen hatte. Allerdings verwendest du Wörter und Ausdrücke, die mir neu sind … Ich bin so ungebildet, Jò!«
»Du und ungebildet, Mehmet? Sag das nicht! Ich bin es, die hier fachsimpelt und dabei langweilig wird. Außerdem sind das alles ganz neue Theorien. Freud hat entdeckt, daß die Seele kein Fixstern in unserem Innern ist, sondern ein sich wandelndes Licht, das dem Pulsieren der Venen und Nerven folgt, sich verdunkelt und aufhellt
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