Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
und wie das Herz, der Sehsinn und die Leber heilbaren oder tödlichen Krankheiten unterworfen ist. Seine Entdeckung ist ein beängstigender Angriff auf alle bisherigen Sicherheiten des Menschen. Deshalb wird er auch von Intellektuellen, Politikern und selbst Ärzten mit allen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpft: der Verleumdung, der Leugnung, und, ich wage gar nicht daran zu denken, es könnte noch bis zur Folter kommen, wie bei Galileo. Bisher begnügen sie sich damit, seine Bücher zu verbrennen. Doch dieser Scheiterhaufen aus lebendigen Worten und Ideen ist nichts anderes als der Prolog zur künftigen echten Folter. Freud hat gesagt, Europa sei zu einem großen Gefängnis verkommen und er könne nur hoffen, daß die Zelle Österreich verschont bleibe. Aber wir sprachen von etwas anderem. Gott, ich bin schrecklich! Wenn ich erst einmal mit einem Thema anfange, kann ich nicht mehr aufhören.«
»Aber ich bin doch froh darüber! Oh, Joyce, sag mir, wer dieser Freud ist. Ich will ihn kennenlernen, erzähle mir von seinen Theorien, von ihm.«
»Wir werden seine Bücher suchen. Du kannst ja Französisch, und ich sehe, daß hier in der Bibliothek Marx und Lenin stehen. Im Norden wird man eingesperrt, wenn man diese Bücher besitzt.«
»Hier noch nicht, zumindest nicht wir Reichen.«
»Eben! Du sagst das ohne Scham, Modesta.«
»Und du bist rot geworden. Warum?«
»Dann bleibt dir nichts anderes übrig, als sie in Catania zu suchen, oder du läßt sie dir aus Paris schicken.«
»Oh, ich werde sie schon finden! Du schreibst mir eine Liste, ja? Und wenn ich beim Lesen etwas nicht verstehe, wirst du es mir erklären, ja?«
»Natürlich, Kleines, natürlich …«
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Wenn »die Stimme« Kleines sagt, wird Modesta ganz winzig und muß sich schnell in Joyces Arme flüchten. Oder wenn sie nebeneinander in den raren Büchern schmökern, welche die lange, mühevolle Jagd nach ihnen noch kostbarer macht wie auch die Gefahr, die allein von ihrem Besitz ausgeht, und Modesta ein Wort nicht begreift, wischt Joyce mit ihrer melodischen Stimme jedes Hindernis fort und eröffnet ihr ein ungeahntes Universum neuer Wörter, neu interpretierter Mythen, Gefühle, Erlebnisse, Passionen, die der alten Kultur entrissen und unter die klare wissenschaftliche Linse der Freudschen Analyse geschoben werden … Mit dem Gedächtnis als Schlüssel zu einer neuen Sichtweise wird eine Reise zurück in die unterirdischen Wälder scheinbar vergessener Erinnerungen angetreten, die, ans Licht gezogen und neu geordnet, von Staub und Krusten befreit, eine Vielzahlglänzender Juwelen offenbaren, die ein besseres Verständnis des eigenen Lebens und des der Mitmenschen erlaubt. Modesta, enttäuscht von der alten idealistischen Ordnung und dem jüngeren, gleichwohl schon hinfälligen Positivismus, kann nicht anders, als der Neuheit und Wahrheit zu lauschen, die Joyce auf die Insel gebracht hat, und sie sich zu eigen zu machen, um in einer Welt zu überleben, wo der alte Gott auf den Plätzen, in den Straßen und Parks durch verlogene Barbarenidole ersetzt wird. Hinausgehen, reisen heißt nun nichts anderes mehr, als das Gift der leeren Phrasen zu schlürfen, das Gift der trügerischen Ordnung und heroischen Triumphe, während dort, neben dem neuen Licht der Intelligenz, das von Joyces reglosem Gesicht ausgeht, die Stunden, Monate, Jahre über geschmierte Gleise dahineilen auf einer noch spannenderen Reise als der der körperlichen Fortbewegung.
Auf dieser Reise war Modesta stets darauf bedacht, jede noch so leichte Andeutung eines Lächelns oder eines Schattens in dem geliebten Gesicht wahrzunehmen. Und jeder Wunsch von ihr, jede Geste, jeder Gedanke ging auf in dem Versuch, Sehnsüchte vorauszuahnen und den Schmerz, der stets unter der Oberfläche lauerte, zu vertreiben, sobald er das Gesicht der Liebe überzog. Nein, Carmine, es reichte eben nicht, dem eigenen Vergnügen zu frönen und ansonsten frei über den materiellen und geistigen Besitz zu galoppieren. In dem Wort Liebe schwangen Bedeutungen mit, so unaufschiebbar und gewiß wie Geburt und Tod, die Liebe mußte man akzeptieren, ohne je zu wissen, warum es sie gab, wann und wie und wo sie uns treffen und an welche kahlen Ufer oder grünen Auen sie uns spülen würde.
Wohin führte Joyces sanftes und verheißungsvolles Lächeln,das die Tage und Monate mit einer nie gekannten Herrlichkeit erfüllte? Wohin strebte dieser so schmeichelnde wie sichere Unterton, wenn sie »Kleines« sagte, manchmal
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