Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
derart autoritär, daß er tiefe Verwirrung und ausweglosen Schrecken verbreitete? Was trieb sie, wenn sie sich wortlos aus einer Umarmung löste? Oder diese jähe Rückkehr der Schamhaftigkeit, die sie so heftig weinen ließ, daß sie Modesta gar nicht mehr wahrnahm? Oder wenn sie wieder da war und die große Mondsichel ihrer Stirn sie aufforderte, sich zu erinnern, Bilder, Wörter und Dinge zusammenzufügen, den Bilderfluten eines Traums, die scheinbar der Laune eines erregten Geistes entsprangen, ihren Sinn zu geben?
Im warmen Sand wurde bei Sonnenuntergang ein Loch gegraben, bis die Finger auf Meerwasser stießen.
»Gold, Gold! … Bambú hat es zuerst berührt!«
»Ja, aber Mela hat mehr gegraben, Joyce! Schau dir nur den Stollen an. Wenn du deine Hände in das klare Wasser tauchst, wirst du immer reich sein!«
Mittlerweile errötet Joyce nicht mehr bei diesem Wort, doch das Gold des Meeres will sie trotzdem nicht berühren.
»Du möchtest wohl nicht für immer reich sein? Los, nur Mut! Die Hände müssen bis zu den Handgelenken im Wasser sein … so: Ich und Mela wollen, daß du auch ein Stück von dem Schatz bekommst, nicht wahr, Tante? Jetzt aber los, wir müssen uns für die große Vorführung heute abend zurechtmachen. Die weltbekannte Pianistin Mela Bruno … Bruno, was für ein häßlicher Nachname, Mela. Nicht böse sein. Wir müssen einen Künstlernamen für dich finden. Eine Pianistin wie du kann bei Gott nicht Bruno heißen, oder? Bruno, Bianchi, Smith! Wir müsseneinen Namen für Mela finden … Euch ist das egal? Na gut, dann finde ich eben alleine einen. Immer muß Bambú an alles denken! Und seid so freundlich, in Abendgarderobe zu erscheinen. Alles soll so sein wie im Konservatorium. Was für ein Erfolg, stimmt’s, Tante? Jacopo kümmert sich um die Beleuchtung. Wir müssen für Joyce alles genau so herrichten, wie es war, weil sie nicht dabeisein konnte.«
Europa ist ein großes Gefängnis, und wenn Jò sich in der Villa und ihrer Umgebung frei bewegen kann, so nur mit äußerster Vorsicht. Bis nach Palermo zu fahren, zum Konservatorium, wäre reiner Wahnsinn gewesen. Wird ihr Gesicht deshalb immer trauriger und blasser? Oder weil sie auch im Sommer nie ohne Kopfbedeckung in den Garten geht? Die breiten Filzkrempen des Winters hat sie durch ein leichtes Geflecht aus hellem Stroh ersetzt. Doch der Schatten auf ihrem Antlitz entfremdet sie uns: ein unergründlicher Schatten, umgeben von Gesichtern und Schultern im hellen Licht der Augustsonne. Nachdem Modesta mit Jacopo und ’Ntoni im Schlepptau über den Strand gelaufen ist, bewegt die Sehnsucht nach diesem Schatten sie zur Umkehr, um erneut den Blick zu erforschen, der jeden Moment in die Ferne zu fliehen droht.
»Wohin gehst du, Jò, wohin?«
»Ich habe mich keinen Zentimeter fortbewegt, Kleines.«
»Sie haben mich nicht gekriegt, hast du gesehen? Sieh nur, wie ’Ntoni keucht, und Jacopo erst! Nach zehn Metern hat er aufgegeben. Und das trotz meiner sechsunddreißig Jahre, Jò! Ich fordere sie gerne heraus. Ich bin sehr stolz auf meine Beine und meine Kondition.«
»Zu Recht. Ich habe dich beim Laufen beobachtet, du sahst aus wie ein junges Mädchen.«
»Ach, du hast mich beobachtet? Dann warst du also nicht weg? Sag noch einmal, daß du mich beobachtet hast.«
»Voller Bewunderung, wenn du es genau wissen willst.«
»Sechsunddreißig! Es kommt mir vor, als sei ich gestern erst aus Catania zurückgekehrt, mit all den Büchern von Freud, weißt du noch? Was hatte ich für eine Angst, du könntest nicht mehr dasein, wenn ich käme.«
»Aber ich war noch da.«
»Ja, ja, aber die Angst ist geblieben.«
»Das liegt an deiner Kindheit, nicht an mir.«
»Vielleicht, aber ich bin nicht mehr so ganz überzeugt, Jò, von den Theorien der Psychoanalyse. Du brauchst nicht böse zu werden, aber manches paßt einfach nicht zusammen, und nicht nur bei mir. Hast du gerade Bambú gehört? Sie redete genau wie ihre Großmutter Gaia, und dann diese Stimme! Sie bekommt dasselbe Timbre wie die große Alte. Und dabei hat sie sie überhaupt nicht gekannt.«
»Du wirst ihr von ihr erzählt haben.«
»Niemals! Seit ich mich entschlossen habe, mit den Traditionen zu brechen, und das heißt, seit ich Carmelo verlassen habe, niemals! Mit Beatrice könntest du recht haben: Sie war das Opfer ihrer Kindheit oder, wie ihr sagt, ihres Zwangsschicksals … das wäre ein schöner Titel für einen Roman.«
»Sehr schön. Aber du arbeitest ja nicht, Modesta!
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