Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
müssen wir uns dieses Vokabulars bedienen, es ist derzeit das einzig präzise. Ich habe gründlich darüber nachgedacht, sieh mal an! Du hast dich unfruchtbar gemacht, verstümmelt. Aber jede Verstümmelung braucht eine Kompensation. Und dir ist nichts anderes übriggeblieben, genau wie den Männern, als zum Ausgleich deine Macht auszuspielen, zu formen, Befehle zu erteilen. Denn nicht nur die Frau beneidet den Mann, fühlt sich versehrt. Auch der Mann hat eine Verstümmelung.«
»Und die wäre?«
»Er kann mit seinem Leib kein Leben schenken. Deshalbversucht er, Ideen Leben zu geben. Denk nur an Pygmalion, an Zeus, der versucht, seine Verstümmelung wettzumachen, indem er etwas in seiner Schädeldecke ausbrütet, nicht etwa ein nacktes, unförmiges Wesen, sondern eine mit Schild und Helm bewehrte, strahlende Kriegerfrau. Denn der Mann ist Mutter genau wie die Frau, nur daß ich niemals eine so machtvolle Mann-Mutter wie dich gesehen habe. Dir gegenüber schrumpft selbst Carmine zu einem zarten Mütterchen.«
»Und darüber lachst du?«
»Mütterliche Übertragung! Schön wär’s, Mama Jò, schön wär’s!«
»Hör auf zu lachen! Du gehst mir auf die Nerven und deine dilettantischen Theorien auch.«
»Und was willst du jetzt tun, Mama Jò, weglaufen?«
»Du widerliche, dumme Kuh!«
»Endlich! Zum ersten Mal verlierst du die Beherrschung, was wird das, willst du mich beschimpfen?«
Joyce stürzt sich auf Modesta und trommelt mit den Fäusten auf sie ein. Noch nie hat eine Frau mich geschlagen, Beatrice zitterte und weinte unter meinen Ohrfeigen, aber dieser sanfte Schmerz auf den Wangen läßt mein Lachen nur noch lauter erschallen.
70
Als Joyce all ihren Zorn herausgelassen hat, sinkt sie auf den Teppich und preßt die Hände ineinander, Modesta folgt ihr und umarmt sie. Vielleicht tun Joyce die Hände ebenso weh wie ihr damals, als sie auf Carmines Gesicht und Schultern einschlug.
»Hast du dir weh getan, Joyce?«
»O ja.«
»Deine Hände sind zu zart, um damit um sich zu schlagen.«
»Und dein Kopf ist hart wie Marmor.«
»Die Knochen der Menschen aus dem Inselinneren. Köpfe und Herzen und Gedanken aus Stein. Wie Tuzzu immer sagte: ›Wer weiß, mit wem deine Mutter dich gezeugt hat.‹ Deine Hände sind kalt wie Eis, ich reibe sie dir.«
»Sie tun so weh!«
»Ich bin ganz vorsichtig … Und du? Wer weiß, mit wem deine Mutter dich gezeugt hat.«
»Mit einer eiskalten, eleganten Kleiderpuppe. Wenn man bedenkt, daß man im Ausland immer nur von der Wärme, der Menschlichkeit der Italiener spricht. Im Vergleich zu meinem Vater wirkte jeder Engländer, den ich getroffen habe, wie ein Neapolitaner.«
»Man kann nie ganz sicher sein, wessen Kind man ist, Joyce. Allein die Mütter wissen es, doch meistens schweigen sie.«
»Oh, bei mir und Renan bin ich sicher.«
»Und wer ist Renan?«
»Meine Schwester.«
»Aber hieß sie nicht … Entschuldige, sonst hast du sie immer anders genannt, oder wart ihr drei Schwestern?«
»Nein, nein, Modesta! Fang nicht wieder mit dem Verhör an, nicht schon wieder!«
»Ich verhöre dich nicht, Joyce, ich liebe dich nur. Wenn man jemanden liebt, will man wissen, wie derjenige früher war, vor zehn, zwanzig Jahren, das ist alles, glaube mir. O Joyce, das habe ich schon einmal erlebt.«
»Was?«
»Wir zwei, hier auf dem Teppich am Reden, der Lichtstrahlim Dunkeln und … Dir passiert es doch bestimmt auch manchmal, daß dir Situationen bekannt vorkommen? Wenn wir uns nur besser erinnern würden, könnten wir vielleicht all die Fehler vermeiden, die wir immer aufs neue machen, ich bin mir sicher, daß diese schon einmal erlebten Momente Hinweise für uns sind.«
»Märchen, Modesta.«
»Kann sein … Aber um auf deine Schwester zurückzukommen, Renan hast du gesagt? Bei ihr bist du dir sicher?«
»Sicher worüber?«
»Komm schon, nur aus Spaß … sicher, daß sie die Tochter deines Vaters ist?«
»Ja.«
»Und die andere, die in Mailand gestorben ist? Wie hieß sie noch? Ach ja … Joland.«
»Ja … sie auch.«
»Nein, was für eine anständige Familie! Eine vorbildliche Mutter! Drei Töchter von demselben Mann. Es waren aber auch andere Zeiten damals. Da hatten die Frauen noch eine Engelsgeduld!«
»Bei Timur bin ich mir auch sicher. Er ist nicht der Sohn meines Vaters.«
»Timur? Hast du etwa noch einen Bruder?«
»Er ist gestern angekommen.«
»Wo ist er?«
»Ich habe ihn weggeschickt.«
»Warum denn das? Warum hast du mir nichts
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