Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
Vom Netzwerk:
zu den ludi littoriali fahren dürfe, den faschistischen Wettkämpfen, um zu sehen, was das ist. Als sie in Neapel stattfanden, war er noch zu jung, um sich dafür zu interessieren.«
    »Und du?«
    »Soll er hinfahren. Besser nichts verbieten, doch ich fürchte um ihn … Sage mir, dann ist Timur also einer von ihnen?«
    »Himmler hat ihn für diese möglicherweise sinnlosen Ausgrabungen bestellt. Himmler glaubt, daß zur Zeit der Sikuler … Aber was interessieren mich Himmler und seine Ausgrabungen! Timur ist es, den ich fürchte. Wenn er zurückkommt, darfst du ihn auf keinen Fall treffen.«

71
    In tadellosem Anzug und mit ruhigem, festem Blick tritt Timur mir entgegen. Er ist etwas größer als Joyce, und trotz seiner Zivilkleidung bewegt er sich wie ein Militär.
    »Ich kann gar nicht ausdrücken, Fürstin, wie dankbar ich Euch bin, daß Ihr meine Einladung angenommen habt.«
    »Ihr sprecht ja Italienisch …«
    »Mein Vater war Italiener, Fürstin, und ich liebe unser Land sehr.«
    Es ist an ihm zu reden, ich habe nicht die Absicht, meinen Vorteil ohne Not aufzugeben. Während des langen Schweigens, das ich folgen lasse, trübt keine Spur der Unsicherheit oder Erwartung die ruhige Eleganz seiner Hände und Gesichtszüge. Auch bei ihm verbindet eine harmonische Linie, die vom kräftigen Kinn bis zu der hohen Stirn führt, die unnatürliche Blässe seines Gesichts mit dem Schwarz des bürstenkurz geschnittenen Haares. Ich hatte also recht, als ich vermutete, daß Joyce auch kahlköpfig wunderschön wäre. Die Narben auf seinen Wangen sehen nicht aus wie irgendwelche Wunden, sondern wie wohlgesetzte Gravuren aus der Hand eines Künstler-Chirurgen. Obwohl mir die Gepflogenheit der Mensur bekannt ist, habe ich doch noch nie ihre Male von nahem gesehen, und ich fange an, sie zu zählen: eins, zwei, drei … Beim Zählen begegne ich Joyces Augen, demselben dunklen, intensiven Blick.
    »Es war ein kühner und genialer Zug des Hotelbesitzers, die heiligen Mauern des Konvents einzureißen und diese große Fensterfront zu errichten. Seine Kühnheit wurde belohnt. Die Aussicht ist unvergleichlich! Mir ist aufgefallen, daß selbst die lärmendsten Gäste verstummen, sobald sie den Saal betreten. Die sakrale Vergangenheit des jahrhundertealten Gemäuers umfängt sie, und inmitten der Stille überkommt sie, beinah würde ich sagen, hypnotisiert sie die herbe Süße der Aussicht, die in die schwindelerregende Tiefe hinabstürzt … seht dort unten … um dann an den Hängen des Ätna wieder aufzusteigen. Ohne die sicheren Mauern im Rücken überkäme einen bei der Aussicht das Grausen. Sagt man so? Sollen wir uns setzen? Möchtet Ihr vielleicht etwas trinken?«
    »Nein, danke, im Moment nicht.«
    »Wie gesagt, ich bin in Berlin geboren, aber unser Vaterwar Italiener, und mein Traum ist es, meinen Lebensabend in unserer Villa bei Todi zu verbringen. Während meiner Internatszeit in Österreich ist meine Liebe zu Italien noch gewachsen, und Italienisch ist für mich heute wie meine Muttersprache. Alle Deutschen lieben Italien, natürlich, aber bei mir ist es etwas anderes. Sobald ich die Grenze überschreite und mein Auge unser Land erblickt, überkommt mich die Gewißheit all seiner Kunstschätze und der noch verborgenen und wohlbehüteten Kulturgüter – wenn behütet der richtige Ausdruck ist –, die unter den Olivenbäumen und den sanften Hängen Umbriens und der Toskana ruhen, mit einer Gewalt, die nichts mit dem allzuoft zitierten Goethe-Vers zu tun hat. Aus diesem Grund habe ich auch Archäologie studiert. Sicher hat meine Schwester es versäumt, Euch von meinem Studium und beruflichen Werdegang zu erzählen. So etwas liegt ihr nicht. Als ich noch fast ein Kind war, mußte ich sie quasi einem Verhör unterziehen, um etwas über ihre Freunde an der Universität zu erfahren. Ich wußte lediglich, daß sie zahlreich und intelligent waren, mehr nicht, und das quälte mich. Ich war als Kind leider sehr eifersüchtig, Euch gegenüber kann ich es ohne Scham zugeben, die Ihr unsere Joyce unter Eure Fittiche genommen habt … Ich muß gestehen, daß ich ihr einmal sogar heimlich nachgeschlichen bin.«
    »Ihr müßt Euch nicht schämen, alle Kinder sind eifersüchtig.«
    »Habt Ihr Kinder?«
    »Ja.«
    »Erlaubt mir, Euch für das zu danken, was Ihr für meine Schwester getan habt. Möglicherweise lag es an dieser Dankbarkeit, daß ich, sobald ich Euch sah, das Gefühl hatte, Euch schon immer zu kennen.«
    »Ich hatte dasselbe

Weitere Kostenlose Bücher