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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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daß das höchste Glück sich in den scheinbar dunkelsten Jahren meiner Existenz versteckte? Sich furchtlos dem Leben hingeben, jederzeit … Und auch jetzt, zwischen den gellenden Pfiffen der Züge und den zuschlagenden Wagentüren, ruft mich das Leben, und ich muß gehen.
    Die Fähigkeit, zu reden und Zuhörer mitzureißen, die sich mir so überraschend offenbart hatte und meine Sinne und meinen Geist berauschte wie eine Droge, ermahnte mich unaufhörlich, daß ich diese Gabe der Natur, die in dem fruchtbaren Humus des jahrelangen Schweigens, des Studiums und der Reflexion gereift war, dazu nutzen konnte, Frauen wie Nina oder Bambolina für unsere Sache zu gewinnen … Sie aus ihrer zwanzigjährigen Lethargie zu wecken, ihnen zu sagen, daß sie nicht die ersten waren, sie über ihre historischen Vorbilder aufzuklären.
    »Sieh mal, Modesta, du kannst doch nicht bei jeder Versammlung erneut von dieser Alexandra Kollontai anfangen … Die Balabanoff, sagst du? Maria Giudice? Komm schon, Modesta, das sind schwierige Persönlichkeiten, unangepaßt, um nicht zu sagen explosiv, zumindest im Moment. Ich will ganz offen mit dir sein, als wir erfuhren, daß Maria krank ist, waren wir fast ein wenig erleichtert. Ich sage es nicht gern, aber sie brachte nur Unruhe. Man kann nicht aus dem Nichts heraus über freie Liebe, Abtreibung und Scheidung reden, das muß man Schritt für Schritt angehen, wie Genosse Giorgio sagt.«
    Ach ja, Giorgio … auf dem Schreibtisch thront zwischen den Büchern ein Bild von ihm.
    »Dein Ehemann, meinst du wohl?«
    »Wie du willst, Modesta, ich merke schon, daß du dich nicht geändert hast.«
    »Du auch nicht.«
    Joyce (oder ihr Geist?) lächelt mich von der anderen Seite der penibel entstaubten, glänzenden Schreibtischplatte milde und distanziert an.
    »Wir haben hier dringlichere Aufgaben.«
    »Aber warum mußte ich den Namen deines Mannes nennen, um dich zu sehen?«
    »Was heißt das schon? Du warst eben niemals ein politisch denkender Mensch, Modesta. Wir müssen die öffentliche Meinung besänftigen, wir müssen dem Land zeigen, daß wir in jeder Hinsicht respektable Leute sind und keine roten Verbrecher, rote Kanaillen oder so etwas, wie man es in ländlichen Gegenden immer noch auf den Mauern lesen kann.«
    Wo hatte sie nur dieses gewinnende Lächeln her, so demokratisch, wie das der Diven und Politiker aus Übersee?Früher hatte sie nie gelächelt, und im schmerzvollen Ernst ihrer Augen hatte ihre Schönheit gelegen. Jetzt, mit diesem fremden Lächeln, das ihr wie von Nadeln befestigt in den Mundwinkeln hing, mit dem weißen, von geübten Händen geschnittenen Haar – sie trug es nur wenig länger als ein Mann –, war ihre Schönheit blutleer, zusammengefallen in einer abstrakten Darstellung tödlicher Einsamkeit. Viele Jahre zuvor hatte Modesta so etwas geahnt, doch die Inkarnation dieser Ahnung läßt sie nun vor Wut und Angst schaudern.
    Um die Abscheu zu überwinden, die Joyces Worte in ihr auslösen, sucht Modesta in ihrem Gedächtnis nach Gesichtern anderer Genossinnen, denen sie auf den Rednertribünen, bei Versammlungen und Zusammenkünften der zurückliegenden Jahre begegnet ist … Luciana? Carla? Vielleicht Renata? Renata ist gerade mal zweiundzwanzig und spult schon ihre ewig gleiche Nummer ab, wie auch gestern abend: »Bis auf wenige Ausnahmen sind die Frauen dumme Gänse. Reine Zeitverschwendung, Modesta. Ich verstehe wirklich nicht, daß jemand wie du seine Zeit damit vergeudet, mit einer von denen essen zu gehen.« Aufgepaßt, Bambolina, Crispina, Olimpia, aufgepaßt! Beschuldigt nicht die Männer, wenn ihr euch in zwanzig, dreißig Jahren mit rissigen Putzhänden weinend in einem wenige Meter breiten Kämmerlein wiederfindet. Nicht die Männer haben euch verraten, sondern diese ehemaligen Sklavinnen, die ihre Sklaverei willentlich verdrängt haben und euch verleugnen, während sie sich in den verschiedenen Machtpositionen an die Seite der Männer stellen.
    »Also, wie entscheidest du dich, Modesta?«
    »Entscheiden?«
    »Immer noch die alte! Du bist unbelehrbar, und wenndir etwas nicht paßt, verschanzt du dich hinter deinen Träumereien und fertig. Du hattest viel Talent, Modesta, aber wie ich sehe, hat dein typisch weiblicher Eigensinn die Oberhand behalten.«
    Aufgepaßt, Bambolina, Crispina, Olimpia, paßt gut auf, die ihr die Privilegien der Bildung und der Freiheit genießt, folgt nicht dem Beispiel dieser linientreuen Hofschranzen. Anstatt euch die Hände wund

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