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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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zu putzen, werdet ihr euch viele düstere Jahre darin üben, nach Männerart die ärmsten unter den Frauen ans Fließband zu ketten, werdet ihr die grausamen, schlaflosen Nächte des Prinzips »Leistung um jeden Preis« kennenlernen. Und nach zwanzigjähriger Übung werdet ihr euch in eurem Gefängnis aus verzerrten Taten und Gedanken wiederfinden, genau wie diese amtspflichtig lächelnde Larve hier – weder männlich noch weiblich –, gefesselt angesichts der Leere und der Trauer um eure verlorene Identität.
    »Ich hatte dem Genossen Giorgio gesagt, es sei sinnlos, dich überzeugen zu wollen, aber er hat darauf bestanden. Er hegt einen eigenartigen Respekt vor dir, und im Namen unserer alten Freundschaft hatte ich beschlossen, mit dir zu reden. Aber ich sehe, es hat keinen Sinn, du wirst die Streichungen, die wir, wie ich finde, völlig zu Recht an deinem Artikel vorgenommen haben, nicht akzeptieren. Er ist zu brutal, Modesta. Heutzutage, im Jahr 1950, kann man über einen Artikel nicht mehr die Überschrift ›Wir sind alle Mörder‹ setzen.«
    »Aber Joyce, waren denn unserer jahrzehntelangen marxistischen Überzeugung nach nicht wir alle es – angefangen bei mir, die ich zu den Menschen rede, über dich, die du hinter diesem Schreibtisch sitzt, bis hin zu dem Pförtner, der mich, zufrieden angesichts seiner erbärmlichen Macht, unter reaktionären Bücklingen durchdas majestätische Tor geleitet –, haben nicht wir alle jene Frau in Salerno dazu gebracht, ja sie geradezu gedrängt, sich mit ihren drei Kindern zu ertränken, weil sie die armseligen Lebensbedingungen nicht mehr …«
    »Eine Geistesgestörte, Modesta! Ich bin Ärztin, vergiß das nicht.«
    »Und nochmals nein! Ich habe mit allen geredet, ich habe die Fotos gesehen. Sie ähnelt Stella, denk nach, Joyce, unserer Stella.«
    »Wer soll das sein?«
    »Stella, Jacopos Amme.«
    »Ach ja, dieses anmutige, etwas zerstreute Bauernmädchen. Wie geht es ihr?«
    »Das spielt jetzt keine Rolle. Wie auch mein Artikel keine Rolle spielt.«
    »Dann veröffentlichen wir ihn also nicht?«
    »Nicht unter diesen Bedingungen.«
    »Modesta, du willst doch nicht etwa einen Skandal heraufbeschwören, oder?«
    »Ich würde es tun, wenn ich dazu in der Lage wäre, aber ich weiß, daß es unmöglich ist, weil ihr eine Bande von Verrätern seid, Joyce. Und dabei mächtig wie eh und je.«
    »Du willst sagen, daß wir nicht verrückt sind. Wir können unsere Bürger nicht derart beunruhigen. Wir müssen die Katholiken als Wählergruppe für uns gewinnen! Wir leben in einem katholischen Land, Modesta, du vergißt die Geschichte!«
    »Ein Artikel in einer politischen Zeitschrift hat nicht die gleiche Verbreitung wie in einer Tageszeitung, und meiner Meinung nach muß man genau dort, nämlich in der Fachpresse, damit beginnen, die Probleme in die Tiefe gehend zu behandeln, um die Tradition zu bewahren – nämlich unsere Tradition – und die Menschen vorzubereiten,damit wir unsere Ideen morgen im Land verbreiten können. Was ihr tut, ist keine Respektbekundung gegenüber der katholischen Wählerschaft, sondern eine komplette Unterwerfung und eine Deformierung der Wurzeln unseres Kampfes.«
    »Gut! Endlich haben wir uns wiedergesehen, leider habe ich zu tun und hätte gern eine Antwort.«
    »Ja, Joyce, wir haben uns wiedergesehen … und jetzt verstehe ich auch, warum ich dich die ganzen Jahre nicht sehen wollte.«
    »Und warum?«
    »Ich ahnte, daß ich danach klarer sehen würde, und scheute davor zurück. Ich wollte mir weiterhin Illusionen machen, und zwar deswegen … verflucht, wie schwer es ist, klarzusehen, wenn du etwas tust, das dich ganz und gar ausfüllt, das dir Freude macht, dich berauscht.«
    »Ich ringe um Geduld, Modesta. Was macht dir denn solche Freude?«
    »Na, eben reden, den Puls der Menge spüren, der Applaus!«
    »Immer noch die alte. Mir bereitet das keine Freude.«
    »Ach nein?«
    »Nein, für mich ist es reine Pflichterfüllung.«
    »Bist du sicher?«
    »Es reicht, Modesta, es reicht!«
    »Du warst es, die mich das bißchen Psychologie gelehrt hat, das jeder können sollte, Joyce.«
    »Oh, Schluß jetzt mit den alten Geschichten, ich habe zu tun.«
    »Ich hingegen habe nichts mehr zu tun, und ich fühle mich wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausgelassen hat.«

89
    Und so mußte Modesta sich entscheiden und die mitreißendste Tätigkeit aufgeben, von der sie je gekostet hatte. Kein süßer Likör, kein frisches Brot, kein Geschmack eines

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