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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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Pflege und euer Zuspruch werden ihm nicht helfen. Er braucht dringend einen Arzt. Die Seele kann genauso erkranken wie der Körper. Er ist innerlich verletzt, und die Wunde wird nur ein Arzt heilen können, der auf solche Fälle spezialisiert ist. Das kommt nicht nur vom Krieg, wie du dachtest, vom Konzentrationslager. Es kommt auch von Stella …«
    »Dann hast du dich also tatsächlich entschieden, Jacopo?Ich hoffte, du würdest deine Meinung noch einmal ändern.«
    »Bambú, du bist wirklich dickköpfig! Wenn selbst er als Kranker es begriffen hat … Hast du nicht gesehen, wie er mich bat abzureisen, sobald er einen Lichtstrahl sah? Wenn er es begriffen hat, müßt auch ihr es begreifen. Was glaubst du denn? Auch ich träumte bei meiner Rückkehr von nichts anderem, als zu lesen und die Sonne zu genießen, das Haus! Danach habe ich mich jahrelang gesehnt, aber jetzt ist klar, daß es nicht geht.«
    »Aber er könnte doch allein nach Mailand zu diesem Arzt gehen.«
    »Nein! Er hat mich gebeten, ihn zu begleiten, und auch für mich ist es letztlich besser so: Ich werde studieren und das Gelernte sofort anwenden können … Ich glaube, das ist ein Zeichen. Wie immer nach einem Krieg überschlägt sich die Entwicklung. Ja, die Zeit läuft schneller, und wahrscheinlich ist das ein Zeichen, daß wir keine Sekunde verlieren dürfen. Gegenüber dem restlichen Europa sind wir zwanzig Jahre im Rückstand! Mama, bitte sprich du mit Ida. Ich weiß, daß du es begriffen hast.«
    »Ich habe es vollkommen begriffen. Wir müssen nur die Kosten überschlagen: Wir haben nur noch wenige Mittel zur Verfügung.«
    »Verflucht! Mit der Zeitung, deren Preis innerhalb eines Jahres auf dreißig Lire gestiegen ist! Scheiße, Mody, dann nehme ich halt das Angebot von dieser steinreichen Kuh an. Ich zieh ein Geschäft auf.«
    »Ein Geschäft, Nina?«
    »Aber ja, Jacopo. Auf der Insel habe ich angefangen zu häkeln, und es ist gar nicht so schlecht, Mützen, Schals, Pullover und Umhängetücher zu häkeln. Und mit dieserverdammten Esmeralda hätten wir eine Förderin. Mir macht es Spaß, Farben zu kombinieren und auszuwählen. Ich hatte schon immer eine Leidenschaft für Farben, vielleicht weil ich eine kleine Blindschleiche bin, wie meine Mutter immer sagte, und Farben springen so schön ins Auge.«
    »Oh, liebe Nina, ein Glück, daß du hierbleibst!«
    »Wir werden auch arbeiten, Mama! Und ’Ntoni wird es ebenso guttun wie mir, sich langsam um sich selbst zu kümmern, auch in finanzieller Hinsicht.«
    »Also, ich gehe schlafen. Was für ein Tag, oh! Ich muß neue Kräfte sammeln für morgen, um den Gunsterweisungen und Erpressungsversuchen dieser Aristokratin Esmeralda zu widerstehen. Aber schön ist sie doch, verflucht noch mal, so was von schön! Es wird ja so viel von der Schönheit des Proletariats geredet … um uns zu trösten und damit wir in unserer Armut nicht aufbegehren. Früher hab ich die Reichen nicht einmal angesehen, oder ich habe sie angesehen und trotzdem nicht gesehen, weil ich die sprichwörtlichen Tomaten auf den Augen hatte. Aber jetzt habe ich es kapiert, verflucht noch mal, und ob ich’s kapiert habe, die sind nicht nur reich, sondern auch schön, duftend und oft noch klug obendrein. Wie du, Jacopo, verdammt noch mal!«
    »Du machst mich ja ganz verlegen, Nina, ich bringe dich nach oben.«
    »Los geht’s, begleite mich, reich mir den Arm. Das kann nicht jeder von sich sagen, von einem Goldjungen wie dir nach oben begleitet zu werden, das werde ich meinen Enkeln erzählen können: ›Also, ob ihr es glaubt oder nicht, liebe Enkelchen, aber vor langer Zeit hatte eure Großmutter nach Knast und Verbannung das Glück, bei den elegantesten und kultiviertesten Leuten zu landen…‹ Und sie werden sagen: ›Aber Großmutter, wie kann das sein? Das mußt du uns erzählen!‹«

88
    Ninas Stimme entschwindet ins Dunkel des Salons. Ich möchte ihr folgen und bei ihren Worten weiterträumen, doch ein Stimmengewirr, das Rattern von Zügen, der unterschwellige Lärm von Menschenmassen lösen sich aus meiner Zukunft und erfüllen das Zimmer, halten mich bewegungsunfähig in meinem Sessel fest … Ich möchte alle Menschen verjagen und mit ihr in die kleine Zelle zurückkehren, wo es undenkbar ist, sich weiter als einen Meter voneinander zu entfernen. Wie kann das sein? Ist es die Trauer um die verlorene Zelle, die mich so weinen läßt? Woher sollte ich es wissen, wenn das Leben es mir nicht sagte? Woher sollte ich wissen,

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