Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Liebhabers konnten bestehen vor diesem Sturm aus Leben und Fülle, der sie jahrelang durch das Land gefegt und jede Erinnerung, jede Melancholie von ihr ferngehalten hatte. Sich entscheiden, nicht mit dem Feind zu kollaborieren, der in hundert neuen Verkleidungen auftrat – welches Gesicht hatte diese neuartige Macht, die in aller Stille und in den schillerndsten Farben von Wissenschaft, Kunst und verschiedenen Berufen unbemerkt ihre Krakententakel ausstreckte und die trotz allem immer wieder dieselbe pure Macht in der edlen Rüstung des stolzen Kriegers war?
Ihre Entscheidung hatte Modesta geholfen, sich aus dem Sessel zu erheben und aufzurichten, doch nun war da noch der Salon zu durchqueren, die große Marmortreppe hinunterzugehen. Und wenn es ihr gegenüber Joyce mit Hilfe der Ironie gelungen war, notdürftig die Leere zu verbergen, die sich ganz langsam von der Brust in den Kopf ausbreitete, änderte sich das im Freien, auf einer marmornen Prachtstraße Roms, dieser inmitten der landesweiten Trümmerwüste verschont gebliebenen, unter den riesigen rosigen Fittichen des Papsttums stehenden Stadt, und sie wurde von Mutlosigkeit gepackt. Um nicht zusammenzubrechen, tastete sie in einer Bar nach einem Stuhl, eingezwängt zwischen Menschen, die aus allen Regionen des Landes kamen und in gleichmäßigem Rhythmus durch die Straßen fluteten, zwischen den unversehrten Mauern nach Schutz und Hoffnung suchend … Wie im Traum umwogte sie die unfaßbare Menge: ausgehungerteItaliener zwischen rosigen, pausbäckigen Amerikanern, die auf Geschäfte hofften. Menschen aus Mittel- und Osteuropa dicht an dicht mit ehemaligen Lagerinsassen: mageren Juden, gefolgt von nur wenig fester auftretenden Ex-Sträflingen … Die Frauen gehen seit ein oder zwei Jahren ohne Hut und Strümpfe auf die Straße. Dort hinten die blonde Frau trägt noch ein Tüchlein um den Kopf, vielleicht aus Scham, und versucht möglichst ungesehen an der Mauer entlangzuhuschen: An ihre Brust preßt sie einen neuerworbenen Schatz, eine grellbunte Zeitschrift aus amerikanischem Hause, »Grand Hotel«, die gerade Furore macht. Auf den Tischen: Eisbecher, Kaffee und Scharen schlanker Coca-Cola-Fläschchen.
»Sie wünschen, Signora?«
»Einen Espresso.«
Runde, lachende Augen, noch schwarz gerändert vom Hunger, spähen mit flinken Blicken durch die Menge auf der Suche nach einer Gelegenheit, bewegliche Augen der ehemaligen sciuscià 19 , erfahren darin, ihre dicke, blonde Beute zu erkennen: den Amerikaner. Der Espresso, auf den wir so viele Jahre verzichten mußten, ist für uns bekanntermaßen immer noch ein Zaubertrank, der die Leere des Verlustes zu füllen vermag.
Schnell muß ich in mein Hotel laufen, ehe ich in den Ausdünstungen unserer kläglichen Soldaten, vermischt mit den hundert Düften amerikanischer Waschseifen und den französischen Dunstwolken, zu ersticken drohe. Doch mir fehlt die Kraft zu laufen. Erschöpft betrachtet Modesta ihr Spiegelbild in einer Fensterscheibe. Seit Jahren hat sie sich nicht mehr im Spiegel gesehen. Ist sie etwa alt geworden? Vielleicht ist die Müdigkeit nichts anderes als ein erstes Symptom des Alters? Wurde ja auch allmählich Zeit, mit fünfzig. Da ist sie also, Modesta: Die Brüste schwerer, die Wangen voller … aber sie war immer ein wenig zu dünn gewesen. Und die geschwungenen Hüften, die schlanken Beine, der bewegliche Oberkörper haben nichts von einer Dame, eher von einem Mädchen, das vom einen auf den anderen Tag gealtert ist, jedoch mit Anmut, wie die Krämerin Nina sagen würde. Was schreibt sie noch in ihrem Brief? »Ich habe dich in der Zeitung gesehen, du sahst wirklich lustig aus, Mody! Viele Küsse von deiner im Geld schwimmenden Krämerin. Ich kann es kaum erwarten, dir zu erzählen, wie gut ich darin geworden bin, diese Dummköpfe von Amerikanern abzuziehen. Du mußt nur behaupten, etwas sei folkloristisch, antik, traditionell, schon öffnen sie ihr Geldsäckel …«
Ein gealtertes Mädchen! Aber in der Fensterscheibe kann sie keine Falten oder grauen Haare entdecken. Wenn Modesta über die Müdigkeit hinaus etwas über sich erfahren will, muß sie den Mut haben, sich einmal im Spiegel zu betrachten. »Verdammt, Mody, du bist weitsichtig! Du siehst alles verschwommen und glatt … Willst du nun endlich deine Brille benutzen?« Es ist wohl besser, wenn Modesta die Brille aufsetzt, die Bambolina ihr geschenkt hat. »Du wirst dir sonst noch den Hals verrenken, Tante, immer wenn du etwas lesen
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