Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
wieder an dieses Tier von deinem Sohn, sehe, wie meine Fäuste ihn an die Mauer drängen, sein Löwenkopf müde herabhängt, und ein wenig tut er mir leid, und ich sage: ›Muß doch mal sehen, ob ihm auch kein Zahn abhanden gekommen ist … Er hängt an seinen Zähnen, an dem strahlenden Lächeln, das er vor den Richtern aufsetzen kann.‹ Ich weiß, du brauchst nicht zu lächeln, wir waren ja alle auf der Abendschule, wie Nicola immer sagt. Ich weiß, daß das uralte Schuldgefühle sind, atavistisch. Wer wagt es schon, die Hand gegen das mehr oder weniger greise Haupt seines Vaters zu erheben, sei er nun gläubig oder Atheist? Gut, ich kehre also nach Hause zurück,öffne heimlich, still und leise die Tür, betrete das Vorzimmer, und was höre ich? Du wirst es nicht glauben, seine schwülstige und schmeichlerische Gerichtssaalstimme, mit der er in den Hörer spricht: ›Wenn ich’s dir doch sage, Mattia, er hat mich geschlagen, da beißt die Maus keinen Faden ab! Bei einem Sohn von deinem eigen Fleisch und Blut kann selbst das passieren, wenn er keine Memme, sondern ein echter Mann ist. Sei froh, daß du nur Mädchen hast!‹«
»Und du?«
»Pff! O Mody, weißt du, das ist gerade ganz fürchterlich bei den Jugendlichen in Rom, dieses ›Pff‹. Hat mir Nicola erzählt, schlimm, aber das wird man gar nicht mehr los, wie einen Ohrwurm.«
»Also?«
»Pff! Oh, ’tschuldigung! Also habe ich ihm ein paar Oden im Stile Millers geflüstert, des großen blasphemischen Henry, und bin, hochzufrieden über mein kulturelles Rüstzeug, schnurstracks zu dir gekommen, der ich selbiges verdanke … Und jetzt los, ich führe dich zum Essen aus, dein Enkel ist heute reich.«
»Wie kommt’s?«
»Ich habe Nicolas Examensarbeit beendet. Erinnerst du dich, daß ich bei dir Erkundigungen eingezogen habe? Ich klaue dir deine Ansichten zur angelsächsischen Literatur, füge den einen oder anderen eigenen Gedanken hinzu und verkaufe das Ganze an Nicola, der reich ist, aber nicht bis drei zählen kann! Und er schindet zu Hause und bei seinem Professor Eindruck. Alles ein einziger Diebstahl, Großmutter, auf deine Kosten …«
»Was gibt es in so einem Fall Schöneres, als bestohlen zu werden? Wenn man bestohlen wird, heißt das doch, daß man reich ist, oder?«
»Also, kleine Göre, was bestellst du?«
»Spaghetti!«
»Ich auch! Hey, Freund, zweimal Spaghetti alle vongole und Ströme von Weißwein.«
»Diese Sonne, Carlo! Noch eine Woche, dann geht’s hinunter zum Schwimmen bis Oktober.«
»Weißt du, daß du eine echte Traum-Großmutter bist?«
»Du hast mir dein Erlebnis von heute vormittag erzählt, Carlo, aber du hast nicht erwähnt, warum du meinen Prando verprügelt hast.«
»Liebst du deinen Prando?«
»Wie eine Mutter ihr Kind liebt.«
»Deine Klarheit, Mody, kann einem angst machen, wie Nina ganz richtig sagt.«
»Also, was wollte dein alter Vater heute morgen?«
»Immer dasselbe Lied: ›Du bist jung … du weißt nicht, was es heißt …‹ Und immer zur gleichen Zeit, am Frühstückstisch, wenn du hungrig bist und noch nicht ganz da: ›Nicht jeder, mein Sohn, hat das Glück, einen Vater zu haben, der ihm den Weg ebnet. Warum nach Unmöglichem wie der Archäologie streben, wenn du eine gut laufende Anwaltskanzlei haben kannst, die sprudelt wie eine Ölquelle?‹ Das war vor fünf Jahren, weißt du noch? Und um des lieben Friedens willen habe ich mir gesagt: Tu ihm den Gefallen, er ist eh der Boß, und den Boß bringt man entweder gleich um, oder man hintergeht ihn. Und ich überspringe Klassen und zahle ihm zurück, was er ausgegeben hat, um mich großzuziehen. Denn das ist der Punkt: Sie wollen, daß das Geld, das sie für dich ausgeben, Früchte trägt. Von wegen Vaterliebe! Stimmt es eigentlich, daß er früher Antifaschist war, Mody?«
»Sicher, und Kommunist noch dazu.«
»Aber wenn er Kommunist war, wieso ist er dann nach dem 20. Parteitag aus der Partei ausgetreten? Dachte er etwa, die Revolution werde mit Bonbons gemacht? Onkel Jacopo ist nicht ausgetreten, im Gegenteil, damals in Mailand sagte er mir, nun müsse man erst recht kämpfen, dabeibleiben und endlich Gramscis Ideen voranbringen … Ich weiß, entschuldige, wir haben oft darüber gesprochen, und es macht dich traurig. Aber für uns Junge ist das eben schwer zu verstehen. Nimm mal Nicola … Draußen, in der Öffentlichkeit, spielt sein Vater den Kommunisten, und sonntags, husch, husch, in die Kirche. Und abends wird immer gebetet. Was
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