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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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Gesicht!«
    »’Ntoni ist ja auch ein Komiker, Carlo, vergiß das nicht.«
    »Und was bedeutet das?«
    »Es gibt auch so etwas wie Wesensart, du darfst um Himmels willen kein Fanatiker der Freude werden! Das Wesen des Komikers ist schrecklich traurig. In den Menschen, in den Berufen, die sie sich wählen, liegt immer auch etwas Geheimnisvolles, Unergründliches. Die Natur an sich ist unergründlich, mein lieber Enkel! Laß die anderen, wie sie sind oder sein wollen!«
    »Du hast recht, Großmutter, ich bin fanatisch wie dein Prando, und bevor du sauer wirst, ich spüre das nämlich, reich mir die Hand zum Frieden! Ich zeige dir eine Bar voller Spiegel und Flitter, die sie vor kurzem in der Nähe der Fischhalle eröffnet haben.«
    Hand in Hand gingen wir zum Hafen hinab, um die Gedanken dem weißen Flug der Möwen anzuvertrauen, die den Wolkenstreifen folgten.
    »… Stimmt es, Mody, daß der Geist manchmal, wenn man ihn läßt, seine Flügel öffnet und über die Farben gleitet und sie aufsaugt wie ein bunter Schmetterling?«
    Derselbe Gedanke im selben Moment, dort auf der Hafenbank im Schatten. Kann eine sechzigjährige Frau dieselben Gedanken haben wie ein zwanzig Jahre junger Mann? Ich sehe ihn an, im Licht der untergehenden Sonne spielen grüne und violette Reflexe in seinen Augen.
    »Tagsüber hast du helle Augen, Carluzzu.«
    »Meine Mutter, ich meine Stella, hatte schwarze Augen, stimmt’s?«
    »Ja, schwarz wie eine sternlose Nacht.«
    »Schade, daß ich mich nicht an sie erinnern kann.«
    »Ich erinnere mich für dich, Carlo.«
    Ja, eine sechzigjährige Frau kann dieselben Gedanken haben wie ein zwanzig Jahre junger Mann. Immer noch erstaunt und glücklich wie ein Kind, wirft sich Modestaihm an den Hals, und der junge Mann umfaßt ihre Taille und wirbelt sie zwischen den Fischern, den Ständen und Rufen der Verkäufer herum. Carlo berichtete Nina und ihren Freunden später, daß einige Passanten sich überrascht, aber weder empört noch spöttisch umdrehten:
    »Stellt euch eine seriöse, elegante Dame vor, die plötzlich von der Erde abhebt, als hätte sie Flügel, und mich umarmt und küßt! Sofort schreit der feiste Konformist in mir: ›Hör auf, sonst lynchen sie dich, Carlo!‹ Aber gleich entgegnet der andere Carlo: ›Feigling, tritt ihnen entgegen wie sie, besser noch, überbiete sie noch, indem du sie durch die Luft wirbelst und dir und dieser gnadenlos dünkelhaften Familie, von der du abstammst, eine Lektion erteilst.‹ Mein Herz zerspringt in tausend Stücke, während wir uns drehen, und ich warte, Sekunden wie Ewigkeiten, auf einen Spottruf, eine bissige Bemerkung. Aber nichts dergleichen … Und als ich sie loslasse und mich umzuschauen wage, sehe ich zwei oder drei Leute, die sich fast furchtsam abwenden, und einen, der mich aus Augen ansieht, die von Klingen des Zweifels gespalten sind, ob dieses merkwürdige Paar vielleicht tatsächlich glücklich ist und den Mut hat, es zu zeigen. Das war dieser Alte vom Hafen, ein Schrank von Mann, dessen Brauen aussehen wie zwei struppige Besen. Und nach einem kurzen Moment beginnt dieser Faltenberg wirklich und wahrhaftig, mich anzulächeln. Das war der Sieg!«
    Nina lacht und ist wunderschön, vielleicht noch schöner als gestern. Sie muß wieder verliebt sein. In wen diesmal? Vielleicht in den großen, dünnen Mann, der sie mit dem Blick eines Musikkenners ansieht, der mühelos auch den kompliziertesten Rhythmen zu folgen vermag? Oder ist Cesare mit dem trägen Körper und der übersprudelndenPhantasie ihre neue Liebe? Nein, es muß doch der Musiker sein, der Nina fasziniert …
    Und ich möchte für immer dort bleiben, doch Bambú ruft mich. Ich möchte bleiben, Carlo zuhören, der ein Erzähltalent hat, das dich von dir selbst entführt und in die Ferne trägt. Doch das Leben eilt dahin in dieser meiner bewußten Jugend, es ruft, und ich muß gehen. Das Leben kann man nicht festhalten. Pietro stirbt und braucht mich.

93
    Hätte der Arzt uns beim Hinausgehen nicht kurz zugeraunt: »Ja, ja, er hat nicht mehr lange!«, hätte niemand von uns es geahnt. Dort sitzt er in dem großen Sessel, den Kopf leicht angelehnt, den Blick durch das geöffnete Fenster in die Ferne gerichtet.
    »Pietro hat noch nie im Bett gelegen, wenn die Sonne hoch stand, und ganz sicher wird mich auch dieser kleine Wurm, der mich in der Brust kitzelt, nicht dazu bringen.«
    »Hast du Schmerzen, Pietro?«
    »Nein, Mody, ich warte auf meine Figghia. Danach, wenn ich sie gesehen

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