Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Zwanzigjährigen. Nein, Modesta, es wäre feige, das zu akzeptieren, noch feiger, als sich auf die Seite der Gefangenenaufseher zu schlagen, damals auf der Insel. Wenn du auf jenem Fleckchen Erde, auf der zu jeder Tageszeit windgepeitschten Felseninsel, der Versuchung widerstanden hast, darfst du das jetzt nicht zunichte machen, indem du vor Prando kapitulierst (oder vor der Angst vor dem Tod?) oder der Angst vor dem Alter, die sie dir eingeimpft haben, um die Gesellschaft nicht in Unordnung zu bringen, um die Festung an vorderster Front nicht zu beschädigen, welche die Familie, mit oder ohne Faschismus, immer noch darstellt, dieses Trainingslager für zukünftige Soldaten, Soldatenmütter, königlicher Großmütter. Und was soll die ewige Verherrlichung der Jugend? Die Jungen sind nützlich, sie schuften, pflanzen sich fort, ziehen in den Krieg, noch bevor sie sich ihrer selbst bewußt sind. Doch mit vierzig, fünfzig Jahren wird der Mensch gefährlich – wenn er nicht längst im immerwährenden Gesellschaftskrieg sein Leben gelassen hat –, beginnt zu zweifeln, fordert Freiheit, Ruhe, Vergnügen. Auch das Wort Alter lügt, Modesta, es wurde mit furchteinflößenden Gespenstern besetzt wie das Wort Tod, damit du stillhältst, dich bereitwillig allen bestehenden Gesetzen unterwirfst. Werweiß schon, was das Alter ist? Wann es beginnt? Zu Stendhals Zeiten war eine Frau mit Dreißig schon alt. Ich habe mit Dreißig gerade erst begonnen, zu denken und zu leben. Wer wagt es schon, diese Schwelle zu überschreiten, ohne auf Vorurteile und Gemeinplätze zu hören? Vielleicht mehr Menschen, als man denkt, trifft man doch in so manchem Winkel auf heitere Gesichter, auf ruhige, wissende Blicke. Dennoch hat niemand je gewagt, darüber zu reden, aus Furcht – immer dieselbe, ewige Furcht –, das einmal errichtete, verlogene Gleichgewicht zu stören. Vor der verschlossenen Tür jenes furchteinflößenden Wortes überkommt dich die Lust, einzutreten, einfach hineinzuschauen, stimmt’s, Modesta? Sicher, wenn du erst einmal drinnen bist, kannst du in jedem Winkel dem Tod begegnen. Aber warum draußen auf ihn warten, mit hängenden Schultern, die Hände untätig im Schoß vergraben? Warum ihm nicht entgegentreten und ihn jeden Tag neu herausfordern, jede einzelne Stunde, ihm soviel Leben entreißen wie möglich?
Die Zigarette zwischen den Fingern ist längst erloschen, und das Wasser lädt ein zur Schlacht. Duftende Seifen wie aus Tausendundeiner Nacht – wer hätte das damals gedacht, stimmt’s, Beatrice? – schimmern rosa, grün und blau im Halbdunkel der Ablage. Bambú hat sie dort hingelegt, um mir eine Freude zu machen. Vielleicht hat sie meine Feigheit durchschaut? »Du bist abwesend, Tante, warum? Abwesend und zerstreut. Bitte, werde wieder wie früher!« Es ist angenehm, sich einzuseifen, man muß das kompakte Ding nur hin und her bewegen. Es ist Zeit für Bewegung, Zeit, mit Muskel- und Gedankenkraft diese Schachpartie gegen den wartenden Sensenmann auszutragen. Und jedes gestohlene, gewonnene Jahr, jede Stunde, die dem Schachspiel der Zeit entrissenist, wird zur Ewigkeit in diesem letzten Kräftemessen. Vielleicht, Modesta, ist der Versuch, auf andere Art zu altern, ein letzter revolutionärer Akt …
Revolutionär? Modesta lächelt und versucht, in dem beschränkten Raum des künstlichen Sees zu schweben.
»Du liegst in der Wanne, als seist du auf offener See, Mody!«
»Draußen regnet es, Beatrice. Es ist Winter, aber ich muß nur die Augen schließen, um mich zu erinnern … Ich habe Angst, das Schwimmen verlernt zu haben. Was meinst du, kann ich noch schwimmen, wenn der Sommer kommt?«
»Wer einmal schwimmen gelernt hat, Mody, verlernt es nie mehr.«
»Wer einmal die Freude der Revolution gekostet hat, meinst du wohl.«
Vor jenem Wort scheint Beatrice wahre Angst zu haben, denn ihr Gesicht wird ganz klein und blaß, so blaß, daß es im aufsteigenden Wasserdampf verschwimmt. Ist sie schon weg? Keine Angst, Beatrice, auch das Wort Revolution lügt oder wird alt. Man müßte ein anderes finden. Wenn Carlo noch lebte, würde er eins finden. Er war gut darin, ein Quell neuer Worte …
92
Wenige Züge nur, und meine Hand berührt den Bart des Propheten: lange, wellengekämmte Locken, wo Fischschwärme durch die grüne Stille der Algen gleiten. Zwischen Bart und Stirn kann man sich ausstrecken, ohne daß das große, hohle Auge des Riesen zuckt, das seit Jahrmillionen über das Meer wacht. Als Modesta
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