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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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nochnicht schwimmen konnte, jagte die Entfernung dieses Blicks ihr immer einen Schauer der Hoffnung und der Furcht über den Rücken. Heute durchströmt nur tiefer Frieden ihren für jede Empfindung der Haut, der Venen, der Gelenke reifen Körper. Ein Körper, der Herr seiner selbst ist, weise, weil er mit allen Fasern begreift. Ein profundes Verständnis der Materie … des Tastens, Sehens, Schmeckens. Rücklings auf dem Felsen liegend, beobachtet Modesta, wie ihre gereiften Sinne ohne die fragilen Kindheitsängste all das Blau, den Wind, die Weite fassen können. Staunend entdeckt sie die Bedeutung dieser Kunst, die sich ihr Körper auf der langen, kurzen Reise ihrer fünfzig Jahre erobert hat. Es gleicht einer zweiten Jugend, bei der das deutliche Wissen um das eigene Jungsein hinzukommt, die Fähigkeit, zu genießen, zu berühren, zu schauen. Fünfzig Jahre, das goldene Zeitalter der Entdekkungen, fünfzig Jahre, ein glückliches und zu Unrecht von Biographen und Dichtern verleumdetes Alter.
    Wie kann ich jenen Sommernachmittag in Worte fassen, da ich hingebettet auf dem Felsen lag, umschmeichelt von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne? Wie die Freude über meine Entdeckung? Wie den anderen davon erzählen? Von dem Glück jeder kleinsten Handlung, jedes Schrittes, jeder neuen Begegnung … von Gesichtern, Büchern, Sonnenauf- und -untergängen und Sonntagnachmittagen an einsamen Stränden? »Du Glückliche, Großmutter, ich beneide dich! Ich habe festgestellt, daß Neid die richtige Haltung ist, um Dinge zu wollen. Indem ich dich beneide, versuche ich dich zu imitieren und werde vielleicht irgendwann so sein wie du.« Wie kann ich von der Freude erzählen, die es bedeutet, diesem Jungen zuzuhören? Die Rührung, die aus seinerStimme spricht, wenn er wiederholt: »Immer wenn ich mit dir, Modesta – darf ich dich so nennen? –, wenn ich mit dir zusammen bin, habe ich das Gefühl, einen Freund zu haben. Also, Freund, ich habe den Lohn von meinem Padrone, meinem Vater, bekommen. Wollen wir ins Kino gehen und uns ein wenig langweilen? Ich muß unbedingt ›Asphaltdschungel‹ sehen, von dem alle reden! Kino ist mittlerweile eine Pflichtveranstaltung. Komm mit, es dauert nur zwei Stunden, dann gehen wir ein wenig spazieren und unterhalten uns. Ich muß dir so viel von Julien erzählen, mit dem du mich bekannt gemacht hast …« Nach dem Kino kann es passieren, daß wir gar nicht reden, weder über den Film noch über Julien Sorel, sondern zu Nina gehen und lachen, zu Abend essen, während Carluzzu und Olimpia unermüdlich Gitarre spielen und sich das Instrument und den Wein hin und her reichen …
    Hier aufhören, inmitten der prallen Freude von Sinn und Geist, um in mir, in euch für immer die zehn schönsten Jahre des Lebens zu bewahren, jene zwischen Fünfzig und Sechzig? Die Versuchung ist groß, aber das Leben hört nicht auf, und Carluzzu betritt die Buchhandlung. Er guckt verärgert, seine Augen blitzen vor Haß, und er wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er sieht mich an, und einen Moment lang entspannt sich sein Blick. Er braucht mich.
    »Was gibt’s, Carluzzu, was ist passiert?«
    »Passiert ist, daß ich dem Mann, der laut Meldeamt dein Sohn ist, also meinem Vater, aber nur den blöden Akten zufolge, eine Tracht Prügel erteilen mußte! Das wollte ich nicht, ich schwöre dir, ich wollte es nicht! Aber er hat mir eine Ohrfeige gegeben. Da sage ich mir:Ruhig, Carlo, es ist nur eine harmlose Ohrfeige. Aber dann fängt er an zu schreien, und Geschrei ertrage ich nun mal nicht, Großmutter, das weißt du, und so mußte ich ihn zum Schweigen bringen. Oh, ich hätte ihn umbringen können!«
    »Und dann?«
    »Dann bin ich zum Hafen gelaufen, um meinen Zorn abzukühlen, immer auf und ab zwischen den Rufen der Fischer. Ich bin eingekehrt und habe bestimmt hundert rohe Miesmuscheln gegessen! Dann habe ich ein Glas Wein hinterhergeschüttet, und der Ärger verflog langsam. O Mody – vielleicht wegen der Muscheln und des Weins am Mittag –, ich hatte das Gefühl, zur Sonne zu fliegen, leicht wie eine Möwe zwischen den weißen Mauern und den Schreien, die Sonne wärmte mir die Schultern, und der Wind kühlte mir die Stirn. Ich hab mir gesagt: ›Warum all das aufgeben für dieses Monster? Außerdem ist es sinnlos, darüber nachzudenken, den Zug oder Dampfer zu besteigen – das hast du oft genug getan –, du kehrst sowieso immer wieder zurück, wie Onkel ’Ntoni und Onkel Jacopo.‹ Dann denke ich

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