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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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für ein Chaos, wie Nina immer sagt! Ich kann mit Nicola nicht mehr diskutieren, Mody, es ist schrecklich, aber ich werde ihn wohl verlieren! Er ist wie ausgepumpt, träge. An einem Tag scheint er klare Gedanken zu haben, dann wieder sagt er, daß alles sinnlos sei. Wußtest du, daß er jetzt indische Texte liest? ›Autobiographie eines Yogi‹ habe ich noch gelesen, um ihn zu verstehen, aber ich fand nichts als den gängigen aufgewärmten Mystizismus. Wieso verstehen sie nicht, daß auch dies nur ein weiteres Opium amerikanischer Machart ist? Was kann man bloß tun? Immerhin gibt es das bei uns zu Hause nicht, auch dank der werten Gattin, die so einer wie dein Sohn wirklich nicht verdient. Sie ist nämlich schwer in Ordnung! Ich weiß nicht, wie sie es schafft, sich den lieben langen Tag für Papa abzurackern und trotzdem immer noch gut informiert zu sein! Sie ist wirklich klug! Ich verstehe einfach nicht, wie eine solche Frau deinen Sohn erträgt, Großmutter, ich verstehe es nicht! Du erträgst ihn doch auch nicht.«
    »Amalia fehlt das nötige Selbstvertrauen, Carluzzu. Sie weiß es nicht, aber es fehlt ihr, weil sie eine Frau ist.«
    »Weißt du, daß ich mir manchmal einen Spaß daraus mache, sie zu necken? Ich umschmeichele sie und schlage ihr vor, mit mir abzuhauen. Sie tut dann immer ganz empört und sagt mit ihrer vollen, schönen Stimme: ›Aber Carlo, ich bin deine Mutter!‹ Und ich: ›Aber nein, Amalia, ich bin doch Stellas Sohn.‹ – ›Aber ich bin alt.‹ Und ich: ›Stella war auch alt, als sie mich mit deinem Ehemann gezeugt hat.‹ Dann läuft sie krebsrot an und sagt: ›Schrecklich, wenn man euch Kindern die Wahrheit sagt, nutzt ihr das schamlos aus!‹ Und lacht … einige der wenigen Male, die ich sie überhaupt lachen sehe. Sie tut mir so leid, daß ich manchmal fast das Gefühl habe, sie zu lieben. Stimmt es, Mody, daß Liebe sehr, sehr nahe am Mitleid liegt? Immerhin habe ich das Juraexamen auch für sie gemacht. Ich sage mir immer: ›Jetzt, wo du fertiger Jurist bist, Carlo, wird dein Erzeuger sich schon beruhigen, dir Geld geben, und du verziehst dich drei Monate nach Griechenland, bevor du in die Uniform schlüpfst.‹ Statt dessen kommt er mir heute so: ›Ab morgen kommst du mit mir ins Gericht und machst dich schon mal mit der Praxis vertraut.‹ Und ich: ›Aber Papa, in sechs Monaten trete ich meinen Militärdienst an!‹ Und er: ›Aber nein, wir lassen dich freistellen.‹ Ich klammere mich an die Offenkundigkeit der Natur und erwidere: ›Aber Papa, mit einer Größe von 1,86 und 120 Zentimeter Brustumfang ist das unmöglich!‹ Darauf er: ›Für einen Brandiforti ist nichts unmöglich.‹ Und mir vergeht der Appetit, und auf dem Teller sehe ich Schlachtfelder, Zwangseinberufungen, Kreuzzüge, und ich verstehe, warum es Kriege gibt … Es ist nur eine Art unter vielen, von zu Hause zu flüchten. Aber verflucht noch mal, Mody! Wie kann er in seinem Alter so reden? Wie kann er sagen: ›Du wirst schon sehen, wie befriedigendes ist, einen Unschuldigen freizusprechen!‹ Für einen Freigesprochenen sitzen hundert andere im Gefängnis. … Versteht er denn nicht, daß hier alles auf dem Prüfstand steht, angefangen bei seinen mindestens tausend Jahre alten Moralvorstellungen?«
    »Vor vierzig Jahren redete Carlo genau wie du.«
    »Welcher Carlo?«
    »Bambolinas Vater.«
    »Ach ja, den sie ermordet haben. Aber mich bringt niemand um, Mody! Uns bringt niemand um, dank dir und Jacopo. Oben in Trient habe ich seine Studenten kennengelernt, junge Leute mit offenem Blick, Leute, die wie ich beschlossen haben, sich von keinem falschen Idealismus einwickeln zu lassen. Es ist nur so …«
    »Was, Carluzzu?«
    »Wir sind wenige, Großmutter, so wenige!«
    »Das war immer so.«
    »Und diese wenigen, die ich in Mailand, London oder Paris kennengelernt habe, sind traurig.«
    »Das war immer so.«
    »Ich möchte nicht so traurig sein wie sie.«
    »Aber in dem Bewußtsein, anders zu sein, liegt auch eine Freude, Carluzzu, man muß sie nur aufspüren.«
    »Das stimmt, das ist es, was sie nicht verstehen wollen! Als schämten sie sich, glücklich zu sein, als bedeute das Glück automatisch, wie die anderen zu sein: oberflächlich, eitel. Nehmen wir mal Onkel ’Ntoni oben in Rom, erfolgreich beim Publikum und bei der Kritik, Schlangen von Intellektuellen und feinen Leuten, die in seiner Garderobe warten, um ihm zu gratulieren. Doch kaum sind wir allein, legt sich eine tragische Maske über sein

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