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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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eine Ebene aus blauem Wasser, aber ohne die Lavaberge dort hinten. Wenn man diese Meeresebene anschaut, sieht man hinten nichts, was den Blick begrenzt, oder genauer gesagt, man sieht eine feine Linie, die nichts anderes ist als das Meer, das mit dem Himmel zusammenfließt. Diese Linie nennt man Horizont.«
    »Und was ist der Horizont?«
    »Hab ich dir doch gesagt, das ist alles eine Ebene aus blauem Wasser, die bis an den Himmel reicht.«
    »Eine Ebene aus blauem Wasser wie deine Augen, die sich mit dem Himmel deiner Stirn vereinen.«
    »Sieh mal an, was für Gedanken! Du bist ja ein cantastorie 1 , meine Güte, ein richtiger Cantastorie! Mit welchem Fuß bist du denn heute morgen aufgestanden, daß dir solche Gedanken kommen?«
    »Und du, mit welchem Fuß bist du aufgestanden, daß du rauchst wie ein Großer? Du rauchst, und ich … Darf ich deine Augen anschauen? Wenn ich sie anschaue, verstehe ich besser, wie das Meer aussieht.«
    »Von mir aus. Was soll ich schon dagegen haben? Wenn du unbedingt wissen willst, wie das Meer aussieht, dann bitte. Das muß ja viel Spaß machen, wenn du dabei so rot wirst. Hübsch anzuschauen bist du, auch wenn du dämlich bist, richtig hübsch! Wer weiß, mit wem dich deine Mutter gemacht hat.«
    »Bestimmt mit einem Mann, einem Matrosen sogar, wenigstens sagt sie das.«
    »Ach nein, jetzt werden wir auch noch witzig! Was ist denn mit dir los? Das letzte Mal warst du eine richtige Mumie. Bist du heute nacht plötzlich erwacht?«
    »Ja, ich bin erwacht, aber nicht erst heut nacht, und auch deswegen wollte ich dich was fragen …«
    »Was? Was soll ich denn über dein Erwachen wissen? Geh und frag deine Mutter. Das mit dem Meer ist was anderes, aber … Oje, hast du heute früh was getrunken? Du bist so rot wie eine Schnapsdrossel. Was wolltest du denn noch wissen? Sag schon, und hör auf, mich anzustarren. Schluß jetzt, mir dreht sich schon der Kopf von der ganzen Anstarrerei. Schöne Augen hast du so aus der Nähe, das war mir noch gar nicht aufgefallen. Sie sehen aus wie Honig … Wer weiß, mit wem dich deine Mutter gemacht hat. Jetzt arbeite ich weiter, ich hab genug. He, wieso hältst du mich fest? Bist du verrückt geworden?«
    Die Hitze war wieder stärker geworden, die Erde dampfte, die Berge rückten weit weg und färbten sich blau. Ich durfte ihn nicht gehen lassen, ich mußte ihnfragen, warum ich – eben, als ich ihn angeschaut hatte, und jetzt, während ich seinen Arm festhielt – diese Lust verspürte, mich dort zu streicheln …
    »Na hör mal, stellt man solche Fragen! Und in deinem Alter! Du bist eine Plage! Mein Vater hat recht, eine Plage! Schämst du dich denn gar nicht?«
    »Warum sollte ich mich schämen? Wenn ich das entdeckt habe, ohne daß es mir jemand gesagt hat, heißt das, daß alle anderen es auch entdecken.«
    »Ganz schön schlau! Was für eine Logik! Paß auf, picciridda 2 , laß meinen Arm los, sonst wird es dir noch leid tun. Mir steigt schon das Blut in den Kopf, paß auf!«
    »Wieso soll ich aufpassen? Ich hab doch keine Angst vor dir, und du mußt mir antworten. Sag, hast du das gewußt?«
    »Natürlich hab ich das gewußt! Wofür hältst du mich? Ich bin doch ein Mann. Wenn du mich nicht losläßt, streichle ich dich, und dann nimmt es ein böses Ende.«
    »Dann nimmt es eben ein böses Ende. Ich hab keine Angst davor! Du bist derjenige, der Angst hat. Von wegen Mann! Du zitterst ja.«
    Er hatte sich losgemacht und war aufgestanden. Merkwürdigerweise hatte ich keine Kraft mehr in den Armen, aber als ich ihn da stehen sah, wie er die Mütze vom Boden aufhob, ohne mich anzusehen, und ich es nicht schaffte aufzustehen, rollte ich mich zur Seite und umklammerte seine Knöchel. Ich hatte Angst, er würde mir einen Tritt versetzen, aber statt dessen beugte er sich mit der Mütze in der Hand zuerst mit ausgestreckten Armen über mich, so als ob er mich wegschieben wollte, fiel dann auf die Knie und dann auf mich. Er hatte die Augengeschlossen. Hatte er sich beim Hinfallen weh getan? War er ohnmächtig geworden? Eine Ewigkeit verging. Ich getraute mich nicht, etwas zu sagen. Ich hatte Angst, er könnte sich wieder von mir lösen. Außerdem hatte ich jetzt, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht einmal mehr die Kraft, die Lippen zu bewegen. Ich kannte diese seltsame Müdigkeit nicht, eine süße Müdigkeit, die mich erschauern und schweben ließ. Hinter meinem Rücken hatte sich bestimmt ein schwindelerregender Abgrund aufgetan, aber diese Schauer

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