Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
inzwischen ist sie jeden Nachmittag und sogar am Abend mit diesen Sozialisten zusammen. Sie kommt zum Abendessen und eilt danach zu ihnen. Ich hasse diese Leute undverstehe überhaupt nicht, was Modesta an dem riesigen Zimmer voll staubiger Bücher findet, in dem nur ein Tisch und viele unbequeme Stühle stehen – es gibt nicht einmal ein Sofa –, und an all diesen schlecht gekleideten Männern, die ohne jeden Respekt für uns Frauen schreien und rauchen. Wie unwohl ich mich an diesem Sonntag gefühlt habe. Nicht nur waren wir die einzigen Frauen dort, es hat sich bei unserem Eintritt auch keiner erhoben. Ich glaube nicht, daß sie schlecht erzogen sind, immerhin sind es Freunde von Carlo. Sie sehen und hören einfach nichts mehr, wenn sie einmal angefangen haben zu diskutieren, wie mir diese Frau, die einzige außer uns, die da war, gesagt hat.
12. März 1921, 22.30 Uhr
Ich schäme mich sogar vor dir, liebes Tagebuch, aber ich bin eifersüchtig auf diese Frau. Sie hat mir mit ihrer Art zu reden, der hohen Stirn und dem Männerhaarschnitt Modesta gestohlen. Modesta spricht nicht darüber, aber ich weiß, daß sie sie sehr bewundert. Sie liest nur noch. Als ob die Bücher und Zeitschriften, die Carlo ihr geschenkt hat, nicht reichten! Jetzt kommt sie immer mit Packen von Zeitungen zurück. Das seien alte Ausgaben der Zeitung, die diese Frau herausgibt. Ich befürchte, daß sie nicht nur zu ihr nach Hause, sondern auch in die Druckerei geht, denn manchmal kommt sie mit der Bluse voller Tintenflecken zurück. Sicher, ich sollte nichts sagen und würde das vor Fremden nie tun, aber du bist mein einziger Vertrauter. Wir kennen uns, seit ich elf Jahre alt bin, und du hast mich nie verraten. Ich weiß, daß ich diese Frau nicht verurteilen sollte und nicht eifersüchtig auf sie sein dürfte, und ich schäme mich vor dir und vor Gott, aber ich kann nichts dagegen tun. Ichhasse sie auch, und das ist noch beschämender, weil sie wunderschön ist … Da, ich habe es gesagt. Ich verlasse dich, um zu beten und dieses häßliche Gefühl zu verscheuchen, das mich Tag und Nacht verfolgt.
13. März
Ich habe gebetet und hoffe, daß es mir gelingt, unvoreingenommen, wenn schon nicht freundschaftlich an sie zu denken. Und das auch, weil sie eine gute Freundin von Carlo ist und, wie Carlo uns gesagt hat, eine Heldin ihrer »Idee«. Schon als junges Mädchen hat sie mit den Gewerkschaften zusammengearbeitet, sie ist oft im Gefängnis gewesen und gefoltert worden. Sie wird gar nicht so jung sein, wie sie aussieht, denn Carlo zufolge ist sie eine der Genossinnen, die an den Streiks auf dem Festland teilgenommen haben – auch sie ist keine Sizilianerin –, um für die Arbeiter den Neun-Stunden- statt des heute üblichen Elf-Stunden-Tags zu erkämpfen. Ich habe mich Modesta gegenüber falsch verhalten, und jetzt bezahle ich dafür. Ich hätte sie in Ruhe mit Carlo sprechen lassen und nicht immer unterbrechen sollen, um zu spielen. Die Großmutter hatte recht, ich bin verwöhnt und faul, aber ich werde mich ändern, das schwöre ich vor dir und vor Gott. Und wenn Carlo zurückkehrt – ich bete jeden Abend zur Mutter Gottes um diese Gnade –, wenn er zurückkehrt, dann lasse ich sie über alles reden und werde versuchen, diese Bücher auch zu lesen. Ich werde es für Modesta tun und um meinen Egoismus zu zügeln.
15. März
Ich habe versucht, das Manifest der Kommunistischen Partei zu lesen, aber mehr als eine Seite habe ich, jedenfalls heute, nicht geschafft. Ich verstehe es, aber es machtmich traurig. Warum, weiß ich nicht, aber es macht mich traurig und jagt mir Angst ein. Ob das an dem Gespenst liegt, das in Europa umgeht? Warum hat Marx dieses häßliche Wort Gespenst gewählt? Hätte er nicht ein anderes Wort finden können, was weiß ich, Engel? Aber so steht es nun einmal da, und ich muß meine Angst überwinden! Ab morgen werde ich jeden Tag darin lesen.
20. März
Ich habe keine Hoffnung mehr, daß Carlo zurückkehrt. Heute ist wieder eine Postkarte von ihm gekommen: »Viele neblige Grüße aus dem nebligen Turin an die Sonnengöttinnen.« Mir ist, als hörte ich in diesen paar Worten seine Stimme. Aber wenn er eine Karte geschickt hat, dann heißt das, daß er noch nicht zurückkehrt. Ich habe keine Kraft mehr, zu weinen und zu beten, liebes Tagebuch, und ich glaube, ich habe nicht einmal mehr die Kraft, mit dir zu sprechen. Was soll ich dir auch sagen? Es regnet. Gott sei Dank haben wir Eriprando mit seinen Spielen und
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