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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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Keim einer Idee in den keuschen Schoß einer Mutter eindringen kann. Aber selbst wenn man dieser Hypothese Glauben schenkt, manifestierten sich bei mir die Symptome der sogenannten Erbkrankheit erst spät, denn ihr Ausbruch wurde von der Erinnerung an den Schmerz meines von Garibaldi verratenen Großvaters und meines von Turatis Spaziergang 1898 durch die Via Volta enttäuschten Vaters unterdrückt.«
    »Auch deinen Vater hat man verraten? Wie konnte man ihn denn beim Spazierengehen verraten?«
    »Er ging spazieren, ja, das ist das richtige Wort! Wenn ich genau darüber nachdenke, muß es das Schicksal meiner Familie sein. In jeder Generation ein Verrat. Gar nicht schlecht, das hat nicht jeder. Was meint Ihr dazu?«
    »Aber Herr Doktor, meint Ihr den Turati …«
    »Ja, genau den, derselbe Filippo Turati, der sich heute im Parlament immer noch soviel Mühe gibt.«
    »Aber der muß doch uralt sein.«
    »Du mußt wissen, mein süßes, ahnungsloses, kleines Mädchen, daß Gott, oder wer immer dort sein mag, den Politisierern – nicht den Politikern – ein langes, langes Leben beschert. Natürlich nur, wenn nicht irgendein Anarchist dafür sorgt …«
    »O mein Gott, Carlo, wofür sorgt dieser Anarchist? Was sind überhaupt Anarchisten?«
    »Sanftmütige, moralische und leichtsinnige Leute so wie du. Laß es dir von der Fürstin erzählen, die längst genausoviel darüber weiß wie ich, wenn nicht sogar mehr. Unsere Fürstin hat Talent zur Politik.«
    »Ach so, jetzt verstehe ich, Carlo. Turati hat deinen Vater verraten, indem auch er Monarchist geworden ist?«
    »O mein Gott, Beatrice! Jetzt bringst du mich zum Lachen. Habt Ihr das gehört, Fürstin? Diese geniale Idee ist gar nicht so weit von der Realität entfernt. Beatrice hat die Quintessenz von Turatis Sozialismus erfaßt. Damit will ich sagen, daß die Sozialisten in die psychologische Falle des liberalen Gedankenguts gegangen sind. Auch sie glauben an die grundsätzliche Richtigkeit demokratischer Institutionen. Während wir nach dem Erfolg der russischen Revolution wissen, daß es absolut unnütz ist, hier und da ein Gesetz zu korrigieren oder furchtsam etwas zu verbessern, wenn man nicht alles von Grund auf ändert. Man muß den Privatbesitz und die Klassen abschaffen und alle Menschen an der Macht beteiligen.«
    »O Gott, Carlo, halt, ich verstehe gar nichts mehr. Warum sagst du ›sie glauben‹, glaubst du etwa nicht daran?«
    »Ich gehöre zur kommunistischen Fraktion und warte darauf, daß sich diese zu einer kommunistischen Partei Italiens formiert. Das wird bald passieren, in wenigen Monaten.
    Aber ich sehe am bewölkten Gesicht unserer Beatrice, daß ich gerade wieder langweilig werde. Entschuldigt, ich habe mich hinreißen lassen. Also, mein Vater hat 1898 an dem Aufstand teilgenommen, der sich spontan erhobenhatte, um gegen die Unmenschlichkeit von elf Stunden, ich wiederhole: elf Stunden, Arbeit pro Tag zu protestieren. Die Gelegenheit bot sich in der Fabrik von Pirelli, der ansonsten ein guter Freund meines Vaters war, außer natürlich in der Politik, versteht sich … Weißt du, wie man Pirelli genannt hat? Darf ich, Fürstin?«
    »Aber natürlich, Herr Doktor, was denkt Ihr denn.«
    »Man nannte ihn den heimlichen Kuppler.«
    »Wie lustig. Und warum?«
    »Weil er Verheiratete und Unverheiratete mit unzulänglichen Busen, Schultern, Hüften, Schenkeln und auch Waden, glaube ich, ›vervollständigte‹. Bei den Waden bin ich mir allerdings nicht sicher.«
    »Genau, damals waren ja solche Kurven modern. Ich habe das im ›Domenica del Corriere‹ gesehen. Wie komisch.«
    »Der Aufstand brach also ganz plötzlich und heftig los. Die Truppen von General Bava Beccaris erschienen, mit allen Tötungsinstrumenten der Moderne bewaffnet. Mein Vater stand, das Hemd voller Steine vor den Bauch gebunden, auf den Barrikaden. Etliche fielen, aber andere hielten stand, während unser Turati in den Pausen der Auseinandersetzung von zwei Genossen auf den Schultern umhergetragen wurde und sich die Kehle aus dem Leib schrie bei dem Versuch, alle zum Nachgeben zu bewegen. Ich kann ihn regelrecht hören, denn auch heute predigt er tagein, tagaus Ruhe und Gewaltlosigkeit … Jedenfalls sagte er damals: ›Als Abgeordneter eurer Körperschaft bitte ich euch inständig um Ruhe und Geduld! Nicht um die Geduld eines Esels, versteht mich nicht falsch, sondern um die Geduld der Vernunft. Hört auf meinen Rat, ich rede euch ins Gewissen, die Stunde ist noch nicht gekommen,

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