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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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die Stunde ist noch nicht gekommen!‹Da schrie ein Genosse Arbeiter neben ihm im stärksten Dialekt: ›Und wann kommt er endlich, der Tag?‹ Habt Ihr verstanden? Ich sehe, daß Ihr lacht; um so besser, ich übersetze nicht gern … Um zum Schluß zu kommen: Diese ›gottesfürchtigen‹ Sozialisten, wie mein Vater sie nannte, ließen sich überzeugen und die Arbeiter einen Aufstand ausbaden, der ansonsten … Na ja, wer weiß das schon.«
    »Und deshalb hat dein Vater nicht mehr gesprochen, der Arme? Das ist eine traurige Geschichte, Carlo. Ich weiß nicht, warum, aber sie ist traurig. Sie ist nicht wie die anderen.«
    »Genau, so traurig, daß sie in mir als Kind wie ein Mittel gegen das Gift der Politik wirkte. Und niemals hätte ich mich dafür interessiert, wenn ich nicht in Turin einen Zwerg wie mich kennengelernt hätte … ja, und wenn ich darüber nachdenke, dann habe ich außer wegen der Intelligenz und Güte in seinem Gesicht auch auf ihn gehört, weil ich endlich jemandem in die Augen schauen konnte.«
    »Wer war dieser Zwerg?«
    »›Wer ist‹, mußt du fragen, Beatrice. Denn er ist glücklicherweise quicklebendig. Antonio Gramsci heißt er.«

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    Aus Beatrices Tagebuch, das Modesta viele Jahre später gefunden hat
    7. Januar 1921
    Warum kann man nicht immer glücklich sein? Warum steht unserem Glück immer etwas im Wege?
    Seit einem Jahr habe ich mich nicht mehr an dich gewandt, liebes Tagebuch, weil ich glücklich war und viel zutun hatte: mich für den Abend fertigmachen, in den Schränken oder der Truhe irgendeine Bluse oder ein Tuch finden, um die Kleider und Röcke aufzufrischen, die Modesta mir hat anfertigen lassen, als wir noch reich waren. Was für schöne Sachen die Großmutter hatte! Wer hätte das gedacht? Wie viele Bänder und Gürtel ich gefunden habe! Und dann gemeinsam mit Quecksilber immer neue Arten entdecken, mich zu frisieren. Die Frisur zu variieren ist wichtig. Auch Modesta sollte das tun, ich habe es ihr oft genug gesagt. Es reicht ein neuer Kamm, ein Band, eine Blume; aber sie ist schon wie die Großmutter und kümmert sich nicht um ihr Aussehen. Vielleicht, weil sie wie die Großmutter zu gescheit ist, aber schade ist es doch, denn jedesmal, wenn ich sie frisieren durfte, sah sie wunderbar aus, was auch Carlo aufgefallen ist. Wie schön es war, im Garten und auf dem Markt immer neue Blumen für den Salon und das Speisezimmer zu suchen und zusammen mit Quecksilber Carlos Geschmack zu erraten – auf dem Festland haben sie einen ganz anderen Geschmack –, damit er unserer Speisen nicht überdrüssig wird. Leicht war das nicht, denn wie Quecksilber richtig sagt, reden Männer nicht gern übers Kochen, und man muß geschickt darin sein, ihre Vorlieben ohne Fragen herauszufinden. Und außerdem essen sie gern gut, selbst wenn sie so gescheit und zerstreut sind wie Carlo. Ich höre an dieser Stelle lieber auf, liebes Tagebuch, denn es tut mir allzu weh, seinen Namen geschrieben zu sehen. Seit einem Monat ist er nun schon in Livorno, um die Gründung dieser neuen Partei zu organisieren. Wer weiß, warum das so lange dauert! Außerdem müßte es schon längst passiert sein, nach dem, was er uns gesagt hat. Was ist, wenn diese kommunistische Partei, die ich fürchte, und dieserZwerg ihn noch brauchen und nicht mehr zurückkehren lassen?
    5. März 1921
    Je mehr Zeit vergeht, um so mehr hasse ich diese neue Partei und Carlos Genossen. Wie peinlich der Sonntag war, an dem er uns mit dorthin genommen hat. Vorher waren wir abends immer im Salon, und an den Sonntagnachmittagen ist er mit uns ins Kino oder ins Theater gegangen. Aber an jenem Sonntag hat Modesta darauf bestanden … Ich muß aufhören, denn bei dem Gedanken an die Sonntage in dem traurigen, kalten Haus kommen mir die Tränen, aber wenigstens war er da noch bei uns. Es stimmt, was Dante sagt:

    Wer fühlt wohl größres Leiden
    Als der, dem schöner Zeiten Bild erscheint
    Im Mißgeschick?
    Ich muß aufhören, denn ich sehe schon die Tränen auf das Papier laufen. Ich möchte dich nicht beflecken, liebes Tagebuch.
    12. März 1921, fünf Uhr nachmittags
    Ich habe viel geweint, liebes Tagebuch, aber jetzt kehre ich zu dir zurück. Mit dir zu sprechen ist mir ein großer Trost. Eine weitere Woche ist vergangen, ohne daß wir etwas von Carlo gehört haben. Auch Modesta weiß nicht, wann er zurückkommt. Oder vielleicht weiß sie, daß er nicht zurückkommt, und will mich nicht traurig machen? Eigentlich müßte sie es wissen, denn

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