Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
Teppich, der von der breiten Treppe bis fast genau vor ihre Füße floss. Und was nicht rot war, war ein Feuerwerk aus Gold und Weiß und gleißendem Licht.
Jonas blinzelte. Der helle Schein der Lüster blendete ihn ebenso sehr wie die schiere Pracht des Treppenhauses.
Der Hermes presste noch einmal den Finger an die Lippen. Sie traten ein. Die Gesandtentreppe war riesig, eine Welt für sich.
Überlebensgroße weiße Plastiken – Kanarien vor allem, aber auch Menschen mit vor Stolz geschwellter Brust – hockten, standen, saßen in den Nischen überall in den Wänden, und der Stuck, der die Bögen über ihnen schmückte, glänzte golden. Der Fußboden, die Wände, sogar die Treppenläufe waren aus kostbarem Marmor und die gewölbte Decke viele Meter über ihren Köpfen war in leuchtenden Farben ausgemalt.
Jonas kam kaum zwei Schritte weit auf dem tiefen Teppich, da musste er einfach den Kopf in den Nacken legen, um genauer hinzusehen. Vor einem sanftblauen Himmel tummelten sich dort oben Rad schlagende Pfauen, flatternde Kanarien und viele fette, rosafarbene Engel. Riesige weiße Schwingen klebten zwischen ihren Schulterblättern. Und über allem, genau in der Deckenmitte, thronte auf einem goldenen Sessel ein bärtiger Riese in einem roten, wallenden Gewand. Mit seinen mächtigen Armen und Beinen und dem alles überschauenden, bohrenden Blick mochte dieser Riese Gottvater selbst sein. Jonas ging dieser Blick bis unter die Haut und er wandte sich ab.
Hermes und Ole hatten schon den Fuß der Treppe erreicht. So schnell er konnte, schloss Jonas zu ihnen auf und ließ seine Hand über den glatten, kühlen Marmor des Treppenlaufs gleiten. Vor ihm wippte Oles verdreckter Rucksack, der krumme Rücken des Hermes war ein, zwei Stufen voraus. Sonst war weit und breit niemand zu sehen. Trotzdem fühlte Jonas sich beobachtet.
Erst auf der letzten Stufe wagte er es, wieder nach dem Deckengemälde zu schauen, und gleich schrak er zusammen. Vom Himmelsthron traf ihn ein stechender Blick aus einem blanken Auge. Konnte das sein? Schaute der Herrgott anderswohin als eben? Folgte er ihnen mit seinen gemalten Augen? Mit dem einen wenigstens, das … vielleicht … etwas größer …? Nein. Jonas dachte an das Auge im Baum mit seinem Lid aus Rinde. Er hatte sich getäuscht. Er täuschte sich wieder.
Noch einmal sah er zur Decke hinauf. Die göttlichen Augen kamen ihm plötzlich kleiner vor. Bestimmt sahen sie nirgendshin.
Verstört drängte er sich an Oles Seite. Der Hermes buckelte schon vor der nächsten Tür. Sie war schwer mit vergoldetem Stuck beladen, öffnete sich zu Jonas’ Erleichterung aber auf einen viel schlichteren, halbdunklen Korridor.
Der Hermes räusperte sich umständlich.
»Du kannst wieder sprechen«, sagte Ole leise, während sie über den Korridor gingen.
Aber Jonas sagte lieber nichts über das Auge. »Woher kennst du den Marquis?«, flüsterte er.
Ole zuckte die Schultern. »Ein alter Freund.« Dann wandte er den Blick wieder nach vorne.
Es ging eine Dienstbotentreppe hinauf. Ihr Führer schnaufte.
Der Marquis de Lunette erwartete sie schon. Er stand in der Tür, am Ende eines Korridors im zweiten Stock. Licht fiel aus der Zimmerflucht in seinem Rücken und verwandelte die kleinen Härchen, die von seiner grauen Perücke abstanden, in einen struppigen Heiligenschein. Der Marquis war groß und dünn und alt. Ein klein wenig gebeugt stand er da, der faltige Hals ragte aus einem Rüschenhemd mit offenem Kragen und überlangen, bauschigen Ärmeln. Dazu trug der Marquis eine himmelblaue, glänzende Kniebundhose.
»Ole Mond!«, rief er und breitete theatralisch die Arme aus. »Dich schickt ein guter Geist!«
Kaum dass sie die Tür erreicht hatten, drückte der Marquis Ole fest an sich. Dann strich er zu Jonas’ Überraschung dem Hermes zärtlich über die Wange. »Das hast du gut gemacht, mein Kleiner. War er widerlich, der olle Grimbert?«
Lunette zwinkerte Jonas verschwörerisch zu.
Aufgeregt klappte der Hermes den Mund auf und zu. Bestimmt wusste er nicht, was er sagen sollte.
»Einerlei!«, rief Lunette. »Du hast sie hergebracht. Prima!« Er sah zu Jonas hinunter. »Früher haben wir Schach gespielt, Grimbert und ich«, verkündete er aufgeräumt. »Aber Grimbert kann nicht verlieren. Wir mussten es aufgeben.« Er lachte. Über seinem Gesicht lag eine dicke Schicht weißen Puders, die Zähne wirkten dagegen fast braun.
»Also, mein Sohn!« Jetzt legte er Ole die Hand auf die Schulter.
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