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Die Unzertrennlichen

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Titel: Die Unzertrennlichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilian Faschinger
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»Meine Verehrung, Signorina!«
    Es hätte mich gewundert, wenn die beiden sich nicht wie alte Bekannte begrüßt hätten. Anders kannte hier jedermann.
    »Eine Freundin aus Österreich, Sissi Fux«, stellte er mich kurz vor und ließ meine Hand los. Eine Freundin, das war ich also. »Sind denn die Flugobjekte bereits auf ihrer herbstlichen Durchreise?«, fragte er dann.
    »Natürlich, natürlich!«, rief Signor Bocchetti. »Die Flugrouten sind stark frequentiert. Es geht zu wie auf der A1 zwischen Mailand und Neapel. Ich habe gerade einen Zug von Kormoranen beobachtet. Sie fliegen in V-Formation.« Er wandte sich an mich. »Wissen Sie, Vivara ist ein Rastplatz für viele Zugvögel – Seidenreiher, Kraniche, Kormorane, Störche und so weiter und so weiter und so fort. Zweihundert Arten! Manche bleiben den ganzen Winter über hier.« Er seufzte. »Ach, ein Leben ist viel zu kurz, um sie alle genau zu studieren. Aber ich tue mein Bestes.« Er sah mich an. »Merops apiaster. Kennen Sie den?«
    Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keine Ahnung.
    »Nicht? Nicht? Aber das ist doch nicht möglich!«, rief Signor Bocchetti. »Er ist vom Aussterben bedroht!«
    »Er meint den Bienenfresser«, warf Anders auf Deutsch ein. Dann sprach er auf Italienisch weiter. »Er frisst tatsächlich Bienen.«
    »Ja, ja, er frisst Bienen, er frisst Bienen!«, rief Signor Bocchetti begeistert. »Bienen, Wespen, Hummeln, Libellen, Zikaden! Aber Bienen sind ihm am liebsten. Er kann die giftigen von den ungiftigen Insekten unterscheiden. Ein kluger Vogel – und wunderschön! Leider kommt er erst im Frühling vorbei.« Er packte mich an den Schultern. »Sie müssen im Frühling wiederkommen. Sie müssen! Man kann nicht in Vivara gewesen sein, ohne einen Bienenfresser gesichtet zu haben! Eine Farbenpracht ohnegleichen!« Er stieß mir seinen Zeigefinger in den Bauch, dann in die Brust. »Bauch- und Brustbereich sind türkisfarben.« Hernach klopfte er sich auf den Kopf, den Nacken und den Rücken. »Rücken- und Nackenpartien sind rostbraun.« Er imitierte Flugbewegungen, indem er die Arme abbog und die Ellbogen heftig auf und ab bewegte. Es sah aus, als würde er im nächsten Augenblick abheben und sich seinen geliebten Flugobjekten auf ihrer Reise nach Afrika anschließen. »Die Flügel sind ebenfalls rostfarben und türkis«, setzte er fort. »Und das Kinn –« Er fasste mich an der Kinnspitze. »Das Kinn ist gelb.« Darauf strich er mit beiden Händen über meine Schläfen. »Und dann noch der schwarze Augenstreif. Das leuchtende Gelb, das tiefe Schwarz, ein großartiger Farbkontrast! Ein Wunder, der Vogel, ein echtes Wunder! Und ruffreudig, äußerst ruffreudig noch dazu.« Er spitzte die Lippen. »Prürr! Prürr!«, rief er, danach: »Krük, krük, krük!«, und schließlich: »Pitt, pitt, pitt, pitt! – Aber nur, wenn er aufgeschreckt wird«, setzte er erklärend hinzu. Hierauf schwieg er, blickte mich an und änderte abrupt das Thema. »Aus Österreich sind Sie? Aus Österreich, sagen Sie? Ach, da muss ich Ihnen etwas Unliebsames erzählen. Bedauerlicherweise wurde ich vor zwei Jahren auf dieser friedlichen Insel, auf der praktisch nur Vogelstimmen zu vernehmen sind, Zeuge einer heftigen und lautstarken Auseinandersetzung. Ich befand mich auf einer Anhöhe der Punta di Mezzogiorno, dem südlichsten Punkt der Insel, und war im Begriff, mich an einen Wiedehopf anzuschleichen. Sehr scheue Vögel, die Wiedehopfe, extrem scheu! Da brach der Streit aus, und der Wiedehopf flog fort. Höchst unangenehm. Ich trat näher an den Abhang heran, der zum Meer abfällt, und blickte hinunter, in die Richtung, aus der das Gezeter kam. Ein Mann und eine Frau, beide in Badekleidung, standen auf einer Felsplattform zwei, drei Meter über dem Meer und schrien einander in einer mir unbekannten und unschönen Sprache an. Sie waren sehr erregt. Plötzlich schlug die Frau den Mann ins Gesicht, worauf er sie an den Rand der Plattform drängte und ins Meer stieß. Ich war entsetzt. So benimmt man sich doch nicht in einem Vogelschutzgebiet! Noch vom Wasser aus schimpfte die Frau auf ihn ein. Sie schwamm von ihm weg, schließlich verschwand sie hinter einem Felsen, und ich sah sie nicht mehr.« Signor Bocchetti machte eine kleine, nicht unwirkungsvolle Pause. »Zwei Tage später musste ich unserer Tageszeitung Il Mattino entnehmen, dass die Frau ertrunken war. Sie kam aus Ihrer Heimat – deshalb ist mir der unerfreuliche Vorfall jetzt in den Sinn gekommen. Ich bitte

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