Die Unzertrennlichen
berufen, die Menschen mit ihrer Stimme zu erfreuen, und der selbstlose, hart arbeitende Arzt, bereit, sein Leben der Heilung kranker Kinder zu widmen. Zwei Stützen der Gesellschaft, einander rückhaltlos ergeben. Was für eine Farce!
Bei offiziellen Anlässen treten wir nach wie vor gemeinsam auf. Es bereitet mir keine Schwierigkeiten, die strahlende Ehefrau zu spielen, im Gegenteil, es macht mir Spaß, die Leute irrezuführen. Ich bin mir sicher, niemand käme auf die Idee, in uns etwas anderes zu vermuten als ein erfolgreiches, gutaussehendes, sich nach langen Jahren gemeinsamen Lebens immer noch wunderbar verstehendes Paar in den besten Jahren. Man beneidet uns. Ich lasse mich gern beneiden. Keiner ahnt, daß wir einander hassen. Daß es Haß ist, der uns aneinanderbindet, nicht Wertschätzung, nicht Liebe.
Wie dumm die Menschen sind, wie sentimental! Wie leicht sie sich täuschen lassen! Man kann nicht anders, als sie für ihre Beschränktheit verachten.
Jedenfalls werde ich mich von Stefan nicht einschüchtern lassen, seine Drohungen sind leere Drohungen. Das ist ihm bewußt. Und er weiß, daß ich weiß, daß es ihm bewusst ist. Er hat keinen einzigen stichhaltigen Beweis für meine Untreue, meine mündlichen Geständnisse können nicht vor Gericht verwendet werden. Außerdem bin ich nach wie vor davon überzeugt, daß er nicht imstande wäre, ohne mich zu leben.
Er kommt nicht von mir los. Niemals. Man verläßt mich nicht. Ich werde es nicht zulassen.«
Das war die letzte Eintragung. Ich schaltete den Laptop aus und lehnte mich im Sessel zurück.
Wie sollte ich weiter vorgehen? Welchen Spuren sollte ich folgen? Im Grunde verliefen sie sich in Neapel, an jenem frühen Morgen im Mai vor mehr als zwei Jahren. Meine Nachforschungen ohne die Unterstützung der italienischen Polizei fortzusetzen, war wenig ratsam, es würde sich als mühsam erweisen und kaum zu positiven Ergebnissen führen. Und mit einer derartigen Hilfe war nicht zu rechnen, wie dieser ölige Sovrintendente mir klar und deutlich zu verstehen gegeben hatte. Außerdem blieb mir nur noch wenig Zeit, in zwei Tagen würde ich nach Österreich zurückkehren und meine Arbeit wiederaufnehmen müssen.
Ich war verwirrt, müde und entmutigt. Was ich ausfindig gemacht hatte, stieß mich ab, ernüchterte, deprimierte und schmerzte mich. Ich trat ans Fenster. Es regnete, der Wind trieb die Tropfen in schrägen Bahnen vor sich her. Der Himmel hatte sich verfinstert, obwohl es noch nicht spät war. Im Zimmer war es kalt, und ich schlüpfte unter die Patchworkdecke. Im Halbschlaf zogen chaotische Bilder an mir vorüber, bekannte und fremde Gesichter. Ich sah eine dunkle Wasserfläche, Stimmen flüsterten, lachten, sprachen zusammenhanglose Sätze, erschreckten mich. Schließlich weckte mich das Telefon. Es war der Übersetzer Anders, der für den nächsten Tag einen Spaziergang auf der Insel Vivara vorschlug.
»Das Wetter ist nicht ideal«, sagte er, »aber du sollst nicht abreisen, ohne die Insel gesehen zu haben.« Das Du ging ihm mühelos über die Lippen. Ich hatte nichts gegen die vertraute Anrede. »Es ist mein Lieblingsort hier, einsam und verlassen, voller seltener Pflanzen und Tiere. Voriges Jahr wurde sie in ein Naturschutzgebiet umgewandelt. Außer einem Ornithologen der Universität von Neapel treibt sich dort niemand herum.« Er schwieg. »Hast du Lust?«
Es war die kleine Insel, von der Stefan gesprochen hatte. Wo Regina vor zwei Jahren von einem Felsen ins Meer gesprungen und für immer aus seinem Gesichtskreis verschwunden war.
Angeblich.
»Ja, klar«, sagte ich. »Hab ich.«
»Ein Erdbeerbaum«, sagte Anders, wich vom Weg ab, tat ein paar Schritte in die dichte Macchia hinein und bog den Zweig eines immergrünen Baumes zu sich herab. »Er ist ein Symbol für Italien. Zu dieser Jahreszeit trägt er Blüten und Früchte zugleich, eine Merkwürdigkeit. Grün, Rot und Weiß, die Farben der italienischen Flagge.«
Ich trat zu ihm ins dornige Dickicht, berührte die glockenförmigen weißen Blüten, die wie große runde Walderdbeeren aussehenden roten Früchte, die dunkelgrün glänzenden, am Rand fein gesägten Blätter. Anders pflückte eine Frucht und brach sie auf. Innen war sie gelb.
»Man kann die Früchte essen«, sagte er und streckte mir die offene Hand entgegen. »Probier doch.«
Wieder überraschte mich der Mann aus dem Norden. Ich sah ihn an, wie er dastand im leichten Regen, lang und dünn, fast bucklig, die Kapuze seiner
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