Die Unzertrennlichen
um Verzeihung, aber wie Sie sich vielleicht vorstellen können, hielt sich mein Mitgefühl für Ihre beiden Landsleute in Grenzen. Mir mit ihrem unbeherrschten Verhalten den Wiedehopf zu verscheuchen! Eine so rare Spezies! Sein Ruf ist unverwechselbar.« Wieder spitzte er die Lippen. »U-pu-pu! U-pu-pu! U-pu-pu!«, flötete er.
Sicher hätte der Vogelkundler uns noch länger über sein Fachgebiet unterrichtet und weitere Rufe seiner gefiederten Freunde nachgeahmt, wenn Anders das zufällige Treffen nicht höflich, aber entschlossen beendet hätte. Signor Bocchettis »U-pu-pu-pu!« war noch eine Zeitlang deutlich zu vernehmen.
Wir gingen weiter, mitten durch die Macchia hindurch, bis zur Punta di Mezzogiorno, dem Ort, von dem der Ornithologe gesprochen hatte. Ich wollte die Stelle mit eigenen Augen sehen, an der sich meine beiden Freunde, jedenfalls laut Stefans Behauptung, für immer getrennt hatten. Signor Bocchetti hatte ihren Badeausflug völlig anders dargestellt als Stefan, der mir die pure Idylle geschildert hatte, ja, nach seiner Beschreibung in Tränen der Trauer, der Rührung, der Liebe ausgebrochen war. Auf Schritt und Tritt begegneten mir hier Menschen, die das Paar gesehen, gehört, gekannt hatten. An tragische Todesfälle dieser Art, bei denen ein junger, schöner, begabter, bewunderter und beneideter Mensch umkommt, erinnert man sich eben gern und lange. Allerdings wurden die beiden nur von der Wirtin meiner Pension uneingeschränkt positiv beurteilt, sie war die Einzige, die ebenso begeistert und schwärmerisch von Regina gesprochen hatte wie meine Großmutter, Frau Dirnböck, nicht wenige andere Bewohner meines Heimatdorfes – und ich selbst. Der Zeuge Jehovas, die Schwester des Zimmermädchens der Pensione Paradiso, der Wirt der Trattoria Gabriela, die Witwe Ciaccoppoli, ihr Enkel und dessen Freund, der Ornithologe und vor allem Regina selbst in ihrem Journal hatten mir einen ganz anderen Eindruck vermittelt, mich auf mir bislang völlig unbekannte, weit weniger liebenswerte Seiten des Ehepaares hingewiesen.
Schließlich endete der Weg, und wir stiegen den Abhang zum Meer hinunter. Anders machte mich immer wieder auf Pflanzen, Vögel und anderes Getier aufmerksam, auf wilde Orchideen, Pilze, Käfer, Reptilien, nannte mir ihre Namen auf Italienisch, Deutsch, Lateinisch: Zistrose. Rondine di mare. Orchis papilionacea. Leuchtender Ölbaumpilz. Gabbiano di liliana. Gelbgrüne Zornnatter. Lupino azzurro. Falco tinnunculus.
»Hier gibt es auch verschiedene Libellenarten«, sagte er und deutete auf den Zweig eines Ginsterstrauches, auf dem ein ockerfarbenes Insekt mit langem dünnem Hinterleib saß. »Eine Heidelibelle, ein spätes Exemplar – das ist ungewöhnlich, die Flugzeit dieser Gattung ist praktisch vorüber.« Er trat näher und besah sich das Tierchen. »Die Arme, ihre Flügel sind ganz verklebt vom Regen.« Er rupfte einen Grashalm aus, und ich sah ihm dabei zu, wie er mit dessen Hilfe vorsichtig einen transparenten, fein geäderten Flügel vom anderen trennte, zunächst das erste Paar, dann das zweite. Er blieb so lange stehen, bis die Libelle ihre Flügel ausbreitete und sich leicht torkelnd in die Lüfte erhob. Wir sahen ihr nach, dann kletterten wir das letzte kleine Stück hinunter, bis der Pfad endete und wir auf einem über das Meer hinausragenden Felsplateau etwa drei Meter über dem Wasser standen, wohl dasjenige, von dem Stefan und der Ornithologe gesprochen hatten. Die unendliche Behutsamkeit, mit der Anders die zarten Flügel der Libelle voneinander gelöst hatte, hatte mich gerührt und beeindruckt. Was gab es an diesem Mann noch zu entdecken? Diesmal war ich es, die sich vor ihn hinstellte, seinen schmalen Kopf in die Hände nahm und ihn küsste, wahrscheinlich an derselben Stelle, wo sich zwischen meinen Freunden ein heftiger Streit abgespielt hatte, wenn man dem Vogelkundler glauben durfte.
An diesem Abend, meinem letzten auf der Insel Procida, aßen wir noch einmal gemeinsam bei Vittorio in der Trattoria Gabriela. Wir waren die einzigen Gäste, hatten beide wenig Appetit und sprachen nicht viel. Auch Vittorio war eher schweigsam und verdrossen und ließ sein Geschirrtuch ziemlich häufig gegen den Schanktisch schnalzen.
Vor der Pensione Paradiso nahm mich der Mann aus Hamburg in die Arme und drückte mich lange und fest an sich. Dann ließ er mich abrupt los.
»Ciao, bella«, sagte er und zog kräftig an seiner Zigarette. »Bis irgendwann.«
Damit drehte er sich um und
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