Die Unzertrennlichen
blassgrünen Windjacke über den Kopf gezogen, in einer Hand die Frucht des Erdbeerbaums, in der anderen die Zigarette. Seit über einer Stunde erklärte mir der Übersetzer, der rauchte wie ein Schlot und hustete wie ein Asthmatiker, Flora und Fauna der kleinen Insel. Seine Kenntnisse waren beeindruckend. Wir hatten die Brücke überquert, die Vivara mit Procida verband. Das vom Wind aufgewühlte, an die Brückenpfeiler gepeitschte Meerwasser zerstob zu weißer Gischt, die bis zu uns hochsprühte und deren winzige Tröpfchen, hie und da vom Licht zu kleinen Regenbogenfragmenten gebrochen, uns einhüllten. Dann waren wir über Stufen aus schwarzen Steinen, zwischen denen Gras wuchs, den Hang der halbmondförmigen Insel, die den westlichen Teil eines Kraters bildete, hinaufgestiegen und befanden uns nun auf dem Weg, der wie das Rückgrat eines Fisches von Norden nach Süden verlief. Denn wenn man Procida von seiner Form her mit einem Riesenkraken vergleichen konnte, dann ähnelte Vivara außer einem Halbmond auch einem aus dem Meer aufsteigenden Delfin.
Ich kostete von der Frucht. Sie schmeckte mehlig und leicht süß. Wir gingen weiter, auf einem von nassem Laub bedeckten und von den langen, starken Ästen alter Steineichen überdachten Hohlweg, an einem zerfallenen, von Efeu und Moos überwachsenen kleinen Steinhaus vorüber, aus dem ein bröckelnder Kamin aus roten Ziegeln ragte. Anders trat in ein kleines Farnwäldchen am Wegrand und deutete auf etwas, das auf einem Farnblatt lag und aussah wie ein etwa zehn Zentimeter langes, dünnes Holzstäbchen.
»Eine Mittelmeerstabschrecke«, sagte er. »Ein Weibchen. Die Männchen werden höchstens sechs Zentimeter lang. Gut getarnt, nicht? Bei Tage bewegen sie sich kaum.« Er bog den Farn zurück und betrachtete prüfend die Unterseite. Das Holzstückchen bewegte sich träge. »Ein Tüpfelfarn«, stellte er fest. »Es gibt hier viele Farnarten, Moosfarne, Streifenfarne, Adlerfarne …«
Er richtete sich auf, sah mich an, streckte die Hand aus, die ausnahmsweise keine Zigarette hielt, zog mich zu sich und küsste mich. Sein Fischmund legte sich über meine Lippen, umfasste sie ganz. Ein eigenartiges, nicht unangenehmes Gefühl, trotz des Geschmacks von Nikotin. Eine weiche Besitznahme. Ich sah keinen Grund, mich zu sträuben.
»Das war nachzuholen«, sagte er dann und grinste. »Unbedingt. Nachdem unsere Handys meinen ersten Versuch sabotiert haben.«
Er nahm meine Hand, und wir gingen weiter, vom Gewölbe der Steineichen vor dem Nieselregen geschützt. Seine Hand war kühl, fast kalt, die Finger knochig. Ich sah ihn von der Seite an. Regina und Stefan waren höchstwahrscheinlich denselben Weg gegangen. Nun war ich es, die ihn beschritt, mit einem Übersetzer, einem Koch, einem Botaniker, einem Entomologen. Jedenfalls mit jemandem, der mit meiner Vergangenheit nicht das Geringste zu tun hatte. Es war wohltuend. War er ein Mann für alle Jahreszeiten? Welche Karten hatte er noch im Ärmel? Plötzlich drang die Sonne durch das dichte Laub, fiel auf die Moospolster am Wegrand, die gelbgrün aufleuchteten und in denen Regentropfen glitzerten, und wir traten hinaus auf eine langgezogene, von Sträuchern gesäumte Wiese, an deren anderem Ende ein großes, baufälliges, villenartiges Haus stand, umgeben von etlichen Nebengebäuden. Eine kleine Hochebene, von der aus sich der Blick in alle Richtungen auftat, nach Westen in Richtung Ischia, nach Osten zurück auf die Insel Procida, nach Südosten auf den Golf von Neapel. Unwillkürlich hielt ich die Luft an. Die Aussicht nahm einem den Atem.
»Was hast du?«, fragte Anders, sah mich an und drückte meine Hand.
»So viel Schönheit«, sagte ich. »So viel Offenheit.«
»Nicht wahr?«, sagte er und küsste mich wieder. Ein gefährlicher Mund. Man konnte sich an ihn gewöhnen.
Wir schritten auf das Haus zu, das von wildwachsendem Strauchwerk und Gebüsch umgeben war, von reich verzweigten Feigenkakteen, Agaven mit ihren charakteristischen, meterhohen, bereits vertrockneten Blütenständen, Oleandersträuchern und anderen, mir unbekannten Pflanzenarten. Eine Art Gutshaus, Säulen, Torbögen, Treppen, eine Terrasse, zwei hohe Kamine. Mir fiel das in seiner südsteirischen Umgebung bizarr wirkende, mittlerweile ebenso verfallene Gebäude ein, das mein Vater für meine Mutter hatte erbauen lassen. Im Gegensatz dazu fügte sich dieses Bauwerk harmonisch in die Landschaft ein.
»Das ehemalige Jagdhaus des Herzogs von Bovino«,
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