Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
mein Schüler gewesen. Wie sollte ein Schüler mehr wissen als seine Lehrerin?
Sie seufzte
. Allzu schnell schwindet das Leben. Das Fell wird fahl, die Bewegungen langsam, der Verstand träge. Es ist geschehen. Erinnere dich meiner Worte. Zufälle gibt es nicht. Alles erfüllt einen Zweck, wenngleich dieser sich uns auch erst spät offenbart.
»Ja«, stimmte ich meiner ehemaligen Mentorin zu. »Es gibt keine Zufälle.«
Der Gedanke, die alte Rättin qualvoll dahinsiechen zu sehen, erfüllte mich mit Schrecken.
Ich spüre, dass ich mich verändere. Es ist kalt in mir. So kalt.
»Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht«, versicherte Maurice Micklewhite, »um Ihnen zu helfen.«
Das wird nicht genug sein
. Einen Augenblick lang schlossen sich ihre Augen. Doch dann blinzelte sie erneut.
Aurora trat neben den Stuhl, auf dem Mylady saß, und streichelte sachte die Stelle zwischen ihren Ohren. Traurig sah das Mädchen aus, doch Mylady genoss diese Streicheleinheit sichtlich und zeigte dies auch, indem sie die Ohren leicht anlegte und die Schnauze wohlig rümpfte.
»Wir werden herausfinden müssen, wer hinter diesem hinterhältigen Angriff steckt«, sagte Maurice Micklewhite. »Und welches Wesen es gewesen ist, dessen Bekanntschaft Mylady zu machen gezwungen war.«
»Emily und ich werden uns darum kümmern«, schlug ich vor.
Das Mädchen schwieg.
Nur Aurora wirkte enttäuscht. »Und ich?«, fragte sie.
»Sie«, schaltete sich Maurice Micklewhite ein, »werden sich einer anderen Sache annehmen, die nicht minder bedeutsam ist.«
Denn das
, hauchte Mylady kraftlos,
ist die zweite Neuigkeit. Von der ich während der letzten Sitzung des Senats erfahren habe.
Gespannt wandten sich aller Anwesenden Blicke der Rättin zu.
Drei Todesfälle ereigneten sich während der letzten beiden Wochen. Morde, die in ihrer Grausamkeit jeden Vergleich scheuen. Drüben im Carfax Bezirk. An den Leichen fanden sich Spuren von Lehm.
Kaum zu glauben, was ich da hörte. »Lehm, sagen Sie?«
Erschrocken suchte ich den Blick meines Freundes.
Maurice Micklewhite nickte ernst. »Wie damals«, sagte er.
»Wie damals, in der Tat.«
Emily, die den Wortwechsel verfolgt hatte, hakte ungeduldig nach: »Was meinen Sie damit?«
Mit einer beiläufigen Handbewegung gebot ich ihr zu schweigen.
»Maurice, das ist unmöglich.«
»Und doch ist es so.«
»Das Übel ist vor mehr als hundert Jahren beseitigt worden.«
»Sagt man.«
»Ich weiß.«
Emily wirkte trotz meiner Zurechtweisung ungeduldig. »Warum, in aller Welt, müssen Sie beide immer so geheimnisvoll tun? Kann uns vielleicht jemand sagen, um was es geht?«
Und Aurora stimmte ein: »Genau!«
Ich fragte mich, ob es möglich sein konnte. Maurice Micklewhite selbst war damals zugegen gewesen. In jenen nebligen Wintertagen, als der Schrecken vom Angesicht der Stadt getilgt worden war.
»Vor langer Zeit«, erklärte ich schließlich, »tötete eine Kreatur wahllos Menschen im Eastend Londons. Die Metropolitan versuchte verzweifelt, ihrem Wüten Einhalt zu gebieten und sie zu fassen. Schlimme, wirklich schlimme Dinge trugen sich damals zu.« Ich entsann mich des Gefühls, das mich beschlichen hatte, wenn ich alleine durch die nächtlichen gaslichterhellten Straßen und schattenversunkenen Gassen der Stadt hatte wandern müssen. Wie jung ich damals war. Wie naiv. »Die Kreatur, die von der Sensationspresse gefürchtet und gleichsam umjubelt worden ist, entzog sich dem Arm des Gesetzes, wieder und wieder.«
Emilys Hände spielten nervös am Saum ihres Pullovers.
»Sie alle haben von jener Bestie gehört«, fuhr ich fort, »die den Bezirk Whitechapel berühmt gemacht hat.«
»Jack«, flüsterte Aurora. »Jack the Ripper.«
»Die Bluttaten vom Eastend sollten London in Unruhen stürzen.«
Emily spürte, wie nahe dies der Geschichte der Familie Manderley kam. »Sie sprechen von den Whitechapel-Aufständen.«
»Ja.«
Eines jedoch war Emily unklar. »Das ist vor langer Zeit geschehen.« Meine Güte, mehr als hundert Jahre mochte es her sein. »Warum sind Sie jetzt so aufgeregt?«
»Weil man damals Lehmspuren auf den Körpern der Opfer fand«, sagte Maurice Micklewhite. »Kaum jemand schenkte diesem Befund Beachtung. Lehmspuren, pah! Das war doch nichts als Dreck. Schließlich hatte man alle Opfer in der Gosse liegend vorgefunden, in ungezieferverseuchten Absteigen und schmutzigen Hinterhöfen. Doch waren es letzten Endes jene Lehmspuren, anhand derer die Bestie entlarvt werden
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