Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
sind bereit«, sagte Maurice Micklewhite laut.
Emily, die dicht neben Aurora stand, kam es so vor, als hätte sich der Mund der großen Skulptur bewegt, als seien die Lefzen des Totengottes zu einem spöttischen Lächeln verzogen worden.
Anubis würde kommen.
Sie spürte seine Anwesenheit bereits.
In der vergangenen Nacht hatte sie ein langes Gespräch mit ihrer Freundin geführt. Eng umschlungen hatten sie nebeneinander in Auroras Bett gelegen. Aurora hatte Emily von Lord Nelson, dem Taubenmann vom Trafalgar Square, und dem anschließenden Auftauchen der beiden Jäger in der Nationalbibliothek berichtet. »Fast gestorben vor Angst bin ich, als die Kerle aus den Schatten aufgetaucht sind.«
Emily konnte sich die beiden noch lebhaft vorstellen. »Warum sucht der Lordkanzler nur den Kontakt?«
»Sie haben angedeutet, dass es etwas mit Lycidas zu tun hat.«
»Habe ich es doch geahnt!«
Der Lichtlord.
Der einst als Lucifer aus dem Himmel vertrieben worden war.
Zu Unrecht?
Nach dem finalen Akt am letzten Weihnachtsfest, als die Engel Lycidas in der Kuppel der St.-Paul’s-Kathedrale dingfest gemacht hatten, war Emily im Raritätenladen auf zwei der Bücher gestoßen, die der Lichtlord einst unter dem Namen John Milton verfasst hatte:
Das verlorene Paradies
und
Das wiedergewonnene Paradies
.
Nicht alles darin hatte das Mädchen verstanden. Immerhin hatte Milton in einem Versmaß geschrieben, das heute nicht mehr ganz so zugänglich war wie vielleicht zu seinen Lebzeiten. Jedenfalls hatte Emily verstanden, dass Milton den Lichtlord Lucifer als missverstandene Seele beschrieb. Eigentlich hatte Lucifer nichts anderes getan, als gegen die überaus strenge Herrschaftsordnung im Himmel aufzubegehren. Er vertrat eine eigene Meinung, was den Engeln strengstens untersagt worden war. Also rebellierte er, weil er die Freiheit wollte. Eine Freiheit, und das hatte Emily sehr gut verstanden, die nicht meinte, tun und lassen zu können, was einem beliebte; nein, Lucifer wünschte sich eine Freiheit des Geistes. Er wollte eigene Gedanken äußern dürfen. Er beharrte auf seinem Recht, selbstständig denken zu dürfen. Was ihm sofort untersagt wurde und auf immer verwehrt bleiben sollte. Damit abfinden wollte er sich nicht, und so kam es zum Krieg der Engel. Gleichgesinnte Engel, die ebenfalls den Wunsch nach Freiheit verspürten, schlossen sich dem Lichtlord an, doch wurde dieses Aufbegehren am Ende von der Übermacht der himmlischen Heerscharen unter der Führung der Urieliten niedergeschlagen.
»Lucifer ist kein böses Wesen in Miltons Buch«, hatte auch Neil ihr erklärt. »Er ist ein unterdrückter Engel, der nur die Rechte für sich in Anspruch nimmt, die für uns heute so selbstverständlich sind.«
»Nicht im Waisenhaus«, hatte Emily geantwortet und erschrocken erkennen müssen, dass sie den Lichtlord in diesem Punkt besser verstand, als sie es sich eingestehen wollte. In ihrem kindlichen Verstand stellte sie sich Lucifers Lage ähnlich der Situation der Waisenkinder vor. Auch in Rotherhithe hatte niemand eine freie Meinung äußern dürfen, auch dort hatten alle unter der Knute des Reverends gelitten und geschwiegen. Konnte es sein, dass der Himmel dem Waisenhaus recht ähnlich gewesen war? Was hätten die Dombeys wohl unternommen, hätten die Kinder eine Revolution angezettelt?
»Du hast aber gesagt, dass Dombey mit dem Lichtlord paktiert hat.« Dieser Einwurf Neils durfte natürlich nicht außer Acht gelassen werden. Dombey war zum Gehilfen des Lichtlords geworden, vor langer, langer Zeit. »Und was die beiden taten, war zweifelsohne böser Natur.«
Neil hatte an die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen gedacht, von denen Emily ihm berichtet hatte.
»Vielleicht ist er dazu gezwungen worden?«, hatte sich Emily laut gefragt. »Man hat ihn aus dem Himmel vertrieben und zu einem Leben verdammt, das er nicht kannte. Ich will nicht sagen, dass ich ihn verstehe oder das gutheiße, was er getan hat.« Nimmer würde sie das tun. »Doch hat er vielleicht nur versucht zu überleben. Auf seine Art.«
»Auf die falsche Art.«
»Vielleicht war das der einzige Weg, den er gesehen hat.«
Neil gab zu bedenken: »Er ist ein Engel. Oder war einer. Glaubst du nicht, dass ein Engel mehr von der Welt wissen müsste?«
Emily hatte nichts darauf geantwortet.
Ja, vielleicht hatte Neil Recht.
Lucifer, Lycidas, Milton, Dee … hatten nicht alle erkannt, was die Welt im Innersten zusammenhält? Oder waren sie nur ein Teil jener
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