Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Kräfte, die Böses zu erreichen suchten und dabei Gutes schufen?
Wie auch immer …
Emily Laing sah ihre Vorahnungen bestätigt.
Etwas lief schief in der Welt.
So viel war sicher.
Zu viele Zufälle waren miteinander verknüpft.
Der Golem, die Rattlinge, des Lordkanzlers Bitte um ein Gespräch, die Hymenopteras am Abgrund, der mysteriöse und überaus hübsche Forscher aus der Region, das Flackern in der Laterne von St. Paul’s. Zufälle und doch wieder keine Zufälle. Was geschah mit Lycidas dort oben in der Laterne? Weshalb das Flackern? Hatte es eine Bedeutung oder doch nicht?
»Wenn man das Muster nicht sieht«, hatte Miss Monflathers den Kindern einmal eingeschärft, »dann heißt das noch lange nicht, dass es kein Muster gibt.« Zugegeben, die Erkenntnis wurde den Schülern während einer Mathematikstunde nahe gebracht. Es war aber nicht nur diese Wissenschaft, die jener Aussage Gültigkeit verlieh. Das Muster erkennen zu können, war mit Sicherheit keine zwangsläufige Bedingung für die Existenz eines Musters.
»Es gibt keine Zufälle«, dachte Emily laut.
»Wittgensteins Motto.«
Das Mondlicht beleuchtete Auroras Gesicht.
Morgen, daran dachten beide voller Argwohn, würden sie den ägyptischen Totengott treffen. Anubis, der zum Lordkanzler von Kensington aufgestiegen war und die Arachnidenkolonien von Chelsea ausgelöscht hatte. Mit Grausen erinnerten sich die Mädchen der Bilder, die sich ihnen vor einem Jahr geboten hatten. Kranke und verwirrte, auseinander fallende Arachniden. Noch immer, so hatte der Elf vor Wochen verkündet, hatten sich die Kolonien in Chelsea nicht von diesem Schlag erholt. Noch immer hatte der Lordkanzler die Vorherrschaft über dieses Gebiet. Mithilfe der Wölfe kontrollierte Kensington die Handelsrouten hinunter zum Fluss.
Keines der beiden Mädchen hatte dem Lordkanzler je gegenübergestanden. Als ihre Mentoren sich damals nach Kensington begeben und einer Versammlung der Handelsgilden in der Royal Albert Hall beigewohnt hatten, waren die Mädchen emsig bestrebt gewesen, nicht in den eisigen Fluten des Hades zu ertrinken.
Beinahe hätte sie damals Aurora verloren, dachte Emily.
Und war glücklich, die Freundin jetzt neben sich zu spüren. Aurora Fitzrovia war einfach nicht mehr wegzudenken aus ihrem Leben. Verstohlen beobachtete sie ihre Freundin von der Seite, wie sie dalag und zur Decke hinaufstarrte.
Steerforth hatte auch Aurora gefallen. Zweifelsohne.
Ob sie gerade an ihn dachte?
An den Forscher aus der Region.
Aus der Nähe erkannte Emily, wie makellos die Haut Auroras und wie ebenmäßig doch ihr Antlitz war. Wenn sich Emily des Nachts müde die Augen rieb, dann ertasteten ihre Finger eine leere Augenhöhle, weil der geschliffene Mondstein allein auf dem Nachttisch ruhte, wo er das Licht der hellen Himmelsscheibe aufsog. Sie musste an die hässliche Narbe denken, die das ansonsten makellose Gesicht Steerforths verunzierte. Irgendwie fühlte sie sich dem seltsamen jungen Mann verbunden. Gerade dadurch. Durch die Narbe. Wie alt mochte Dorian sein? Irgendwie beschlich Emily das Gefühl, dass auch ihre Freundin in Gedanken bei dem jungen Mann verweilte und sich ähnliche Fragen stellte.
»Er ist nett«, hatte Emily ihren Retter umschrieben, nachdem dieser sich empfohlen hatte.
»Er ist nett
und
sieht aus wie Jude Law.«
Beide waren sich darüber einig, dass dem sehr wenig hinzuzufügen war.
»Gefällt er dir?« Zaghaft hatte sich Emily diese Frage irgendwann am Abend abgerungen.
»Wie meinst du das?«
Ungeduldig antwortete Emily: »Genau so, wie ich gefragt habe. Gefällt er dir?«
»Hm, ja. Ich denke schon.«
»So!«
»So?«
»Ach, nichts.«
Aurora setzte sich im Bett auf.
»Emmy, was ist los?«
»Gar nichts.«
»Schau mich an.« Emily leistete der Aufforderung Folge. »Wir sind doch Freundinnen«, sagte Aurora beherzt. »Niemals wird sich irgend so ein Kerl zwischen uns stellen. Versprochen! Niemals, hörst du?«
Jetzt hatte sie es wieder geschafft. Emily musste lächeln. »Versprochen«, sagte auch sie.
Bereits im Waisenhaus hatte es Aurora oft vermocht, die Laune ihrer grüblerisch veranlagten Freundin aufzuhellen. Manchmal hatte sie kleine Zeichnungen vom Reverend und seinem missratenen Sohn angefertigt und sie verhuscht beim Mittagessen herumgezeigt. Schnellstens mussten diese Karikaturen dann im großen Feuer in der Küche verschwinden, denn die Folgen, hätten die Dombeys einen der Zettel entdeckt, wären nicht sehr angenehm gewesen.
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