Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Nichtsdestotrotz hatte sie das tyrannische Oberhaupt des Waisenhauses mehr als nur gut getroffen.
Rückblickend, stellte Emily immer öfter fest, bekamen die Dinge, die ihnen in der Vergangenheit zugestoßen waren, fast etwas Magisches. Keines der beiden Kinder sehnte sich nach dem Waisenhaus zurück. Allein dies anzunehmen wäre vermessen gewesen. Und doch wurden manche Ereignisse nostalgisch verklärt. So hatten sich die beiden einmal stundenlang im Waterstone in der Bedfordbury herumgetrieben und in Bildbänden geschmökert. Dem Reverend hatten sie berichtet, dass die Metropolitan sie festgehalten und wegen des Bettelns befragt habe. Emily hatte ihrer Freundin vor dem Einschlafen lange Geschichten erzählt. In Episoden waren sie Little Nell Trent durch die Gassen Londons gefolgt, und sogar Ismaels Schicksal auf der
Pequot
hatte Emily vor Aurora ausgebreitet. Es waren Momente trauter Zweisamkeit gewesen, in denen die Welt um die Kinder herum zu verschwinden gezwungen wurde. Emilys Worte, die in der Dunkelheit des Schlafsaals Bilder von fremden Welten malten, und Auroras bange Fragen, wie die Geschichte denn wohl enden möge. Damit hatten sich die beiden das karge Leben erträglich gemacht. Im Nachhinein schien es beinah eine tolle Zeit gewesen zu sein.
Die beiden verschworenen Freundinnen gegen den Rest der Welt.
Beinahe nur.
Die Realität, auch daran erinnerte sich Emily, hatte anders ausgesehen.
Und doch war es schön, sich so an die Zeit in Rotherhithe zu erinnern, wie sie es manchmal tat. Vielleicht, so hatte sich Emily oft gefragt, war dies die einzige Möglichkeit, mit der Vergangenheit und all den schlechten Erfahrungen Frieden zu schließen. Es gab keine bessere Alternative, um die Erlebnisse der letzten Jahre zu verarbeiten. Wichtig war der Weg, der vor ihr lag.
Eines jedoch stand fest. So wie Aurora sie in der Vergangenheit begleitet hatte, so würde sie Emily auch in den Zeiten begleiten, die vor ihnen beiden lagen. Was immer da auch kommen mochte.
Niemand würde je etwas an dieser Tatsache ändern können.
Nicht die uralte Metropole.
Keines der mächtigen Häuser.
Weder Ratten noch Engel.
Und mit Sicherheit kein Dorian Steerforth.
Das schworen sich die beiden von ganzem Herzen. Nicht ahnend, wie schwer manche Versprechen zu halten sind.
In der Nacht nach ihrer Rückkehr aus der Region hatte Emily all diesen Gedanken nachgehangen, doch jetzt spürte sie mit einem Mal etwas anderes. Keine Gewissensbisse und auch keine Sympathie für den jungen Forscher. Nein, es war nicht einmal Furcht. Eine fremde Wesenheit, die ihren Besuch im Museum ankündigte. Das war es. Gedanken in einer fremden Sprache drangen in Emilys Bewusstsein. Ägyptische Beschwörungsformeln, die zischelnd geflüstert wurden. Es schwindelte dem Mädchen, als sie merkte, wie ihr Verstand hinfortgerissen wurde.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte ich besorgt.
Emily war blass geworden.
Ihre Hände hatten zu zittern begonnen.
»Er ist hier«, sagte sie. Die Stimme des Mädchens klang verzweifelt. »Er will nicht, dass ich bei ihm bin.« Die Augen zuckten unruhig, und dann kippte Emily einfach so zur Seite. Behände fing ich sie auf, bevor sie auf den Steinboden aufschlagen konnte.
Eine tiefe Stimme füllte mit einem Mal den Raum.
»Seien Sie gegrüßt«, dröhnte die Stimme.
Vor der Skulptur war das Ebenbild des ägyptischen Totengottes erschienen, gekleidet in einen eleganten, dunklen Nadelstreifenanzug. Der Kopf mit der lang gezogenen Schnauze und den hoch stehenden spitzen Ohren drehte sich wachsam, und die geschlitzten Schakalsaugen funkelten neugierig in die Runde.
»Wir grüßen Euch«, sagte Maurice Micklewhite.
»Lordkanzler«, empfing ich ihn mit einer angedeuteten Verbeugung.
Emily schlug die Augen auf und sah die große Gestalt mit dem Kopf eines Schakals vor sich stehen.
»Ich bin Anubis«, stellte sich der Lordkanzler von Kensington vor. Tadelnd wandte er sich dem Mädchen zu. »Es gehört sich nicht, in fremden Gedanken zu stöbern. Hat Wittgenstein Sie das nicht gelehrt?« Er blickte zu mir.
Unschuldig antwortete ich: »Fragt nicht.«
»Kleine Trickster, Sie sollten den Verstand eines Gottes meiden.«
Emily hatte einwenden wollen, dass es ihr einfach so passiert sei. Immerhin war das die Wahrheit. Es war mitnichten Absicht gewesen. Sie hatte die Anwesenheit des Lordkanzlers gespürt, und dann war es einfach geschehen.
Letzten Endes schwieg sie.
Was wohl die beste Antwort war.
Anubis machte
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