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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Eigenschaft, auf die sie als Trickster zurückgreifen konnte. Sie nahm sich der dunklen Dinge an, die die Sicht des Wirtes trübten, und verbarg sie in jenem Gefäß, in dem sie auch ihre eigene Furcht weggeschlossen hatte. Es war ihr also vergönnt, Gutes zu tun. Wenngleich sie meine andere Andeutung nicht vergessen hatte. Insgeheim befürchtete Emily nämlich, dass man eines Tages von ihr verlangen würde, die Fähigkeit
gegen
Menschen einzusetzen.
    Erst später sollte sie davon erfahren.
    Von meinem Zwist mit dem Senat.
    Und der Loyalität einer Rättin zu ihrem Ziehsohn und Schüler.
    »Lassen Sie uns reingehen«, schlug Emily schließlich vor.
    So betraten wir das hässliche Gebäude von Tower Records mit dem großen Virgin Megastore. Musik beschallte die Kunden, die sich bereits am Morgen in der CD-Abteilung herumtrieben und lustlos oder interessiert, jedoch immer mit einem genervt lässigen Gesichtsausdruck, in den Regalen blätternd mürrisch die anderen Kunden betrachteten, als fände ein seltsamer Wettbewerb statt, wer am teilnahmslosesten auszusehen vermochte. Notorische Schulschwänzer und die trockene Wärme geschlossener Räume suchende Restefresser, stöbernde Hausfrauen und zu spät zur Arbeit kommende Geschäftsleute, früh aufgestandene Touristen und der Universität abgeneigte Studenten – sie alle bevölkerten den Virgin Megastore an jenem Morgen. Der Laden war riesig und beherbergte alles, angefangen bei CDs bis hin zu Fernsehgeräten und Filmprojektoren. Es war ein Babylon für die Götzen des Zeitgeistes, wegen denen die alten Götter ihre Heimat verlassen und auf Wanderschaft gegangen waren, um die letzten Orte zu finden, an denen ihre Existenz noch einen Sinn erfuhr.
    Hier fanden sie diesen Sinn gewiss nicht.
    Nicht im Virgin Store.
    Nicht mehr …
    Laut und schrill war die Musik, sodass wir des Engels nicht gewahr wurden, der plötzlich hinter uns auftauchte.
    »Master Wittgenstein«, hörten wir eine glasklare Stimme sagen, »und die junge Miss Emily Laing.« Fast schon war diese Stimme als Gesang zu bezeichnen.
    Auge in Auge standen wir dem Urieliten gegenüber.
    Tief in den blauen Augen loderte das Feuer der Lichtengel. Jedoch traurig, wie mir schien. Rahels Stimme war eine filigrane Melodie und setzte sich mühelos gegen den penetrant hämmernden Bass der Popmusik durch, der den Raum zerschnitt. »Es ist gut, dass Ihr beide hergekommen seid.« Er trug die gleichen abgetragenen Klamotten wie damals, als Emily ihn als Straßenmusikanten hatte erleben dürfen. Und wie damals sah er aus wie einer der fahrenden Spielleute aus den Mittelalter-Filmen von früher. »Ich habe Euch beiden Wichtiges mitzuteilen.«
    »Maurice Micklewhite hat mir von seinem Traum berichtet«, sagte ich.
    Rahel nickte ernst. »Die Schatten machen selbst vor den Träumen nicht mehr halt.«
    Des Engels Mund zuckte unruhig.
    »Ihr seid in Schwierigkeiten.«
    Das war nicht zu leugnen.
    Dann überraschte er uns jedoch.
    »Ich weiß, wo Ihr findet, wonach Euch verlangt.« Die faltige Trauer, die seine uralten, wunderschönen Augen umschattet, dachte Emily, war vor einem Jahr noch nicht da gewesen. »Ich werde Euch, sofern Ihr das wünscht, zur Lichtlady führen«, sagte er leise. Auch Emily bemerkte die ersten Unreinheiten in der Melodie, die seine Stimme war.
    Wenn dies der Wahrheit entsprach, dann …
    »Ihr wisst, wo die Lichtlady zu finden ist?«
    Rahel senkte den Kopf.
    »Ich bin der Schlüssel zum Schicksal der uralten Metropole.«
    Die Musik im Hintergrund dröhnte unangenehm.
    Was meinte er damit?
    »Eurem Blick entnehme ich, dass Ihr verwirrt seid.«
    »In der Tat, das bin ich.«
    Der Engel wirkte müde. »Lasst uns einen ruhigeren Ort aufsuchen und dann lauscht meiner Geschichte.« Er sah uns an, und in dem Feuer seiner Augen brannte alle Trauer der Welt. Etwas verzehrte den Lichtengel. So sehr, dass er nicht mehr in den Straßen zu singen vermochte. »Doch seid gewarnt«, fügte er hinzu, »denn es wird keine schöne Geschichte sein, die Ihr zu hören bekommt, und sie wird auch kein gutes Ende nehmen.«

Kapitel 14
Rahels Geschichte
    »Engel können, wie Ihr sicherlich wisst, nicht sterben.« Mit diesen Worten begann die Geschichte des Engels Rahel, die nicht schön sein und auch kein gutes Ende nehmen sollte. »Nicht so, wie Menschen sich das Sterben vorstellen.«
    Rahel hatte uns durch dicke Stahltüren aus den Verkaufsräumen hinausgeleitet bis hin zu einem Zimmer, das an die Lager angrenzte, in denen die

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