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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Götzen des neuen Zeitalters bis unter die Decke gestapelt waren: riesige Breitbildfernseher, winzige Radios, DVD- und CD-Player, mobile Telefone, Tonträger aller Art, auf deren kalte, silbern glänzende Oberflächen die Träume und Sehnsüchte tausender Menschen gebrannt waren. Notebooks und Computer, Projektionsanlagen und Möbelstücke, die der Aufbewahrung all dieser Güter dienten.
    »Das hier ist jetzt meine Welt«, führte uns Rahel in diesen Kosmos ein und fügte hinzu: »Das ist der Tod, den die Engel heute sterben müssen.«
    Emily konnte ihre Neugierde nicht länger zügeln. »Warum arbeitet ein Engel in einem Virgin Megastore?«
    Rahel lächelte traurig: »Der Name des Ladens gefiel mir.«
    Sonderbar.
    Besaßen Engel Humor?
    »Wie gesagt, wir können nicht sterben. Normalerweise.«
    Der Raum, in den er uns geführt hatte, war nicht groß, bot aber ausreichend Platz für einen kleinen durchsichtigen Tisch mit vier Stühlen aus neonbuntem Plastik und einen hohen Kühlschrank, dessen Vorderseite mit Aufklebern gespickt war. Plakate waren auf die weißen Wände geklebt, die von den Leuchtröhren an der niedrigen Decke in unwirklich helles Licht getaucht wurden.
    Rahel bemerkte Emilys Blick und sagte: »Die Musik ist gleichsam ein Abbild der Vergänglichkeit und der Ewigkeit. Wenn wir uns an die Musik vergangener Tage erinnern und sie erneut in unseren Ohren klingen hören, dann spüren wir, was war und nicht mehr ist. Und das, was war und ewig sein wird.« Da hingen alte Tourplakate von U2, Sigue Sigue Sputnik, Bruce Springsteen, Peter Gabriel und den Sisters of Mercy.
    »Manchmal sind es sogar Engel, die da musizieren und ihre flammenden Blicke hinter undurchdringlichen Sonnenbrillen verstecken«, sagte Rahel und deutete auf eines der Plakate. »So verarbeiten sie ihre Erinnerungen an die Dinge, die einst waren, als die Welt in den Fluten versinken musste, weil der Träumer es so wollte.« Müde lächelte er uns an. »Seltsam, nicht wahr? Mit dieser Art der Vergangenheitsbewältigung sogar in den Charts landen zu können.«
    Wahrlich, das war es.
    Emily folgte der Aufforderung des Engels und nahm an dem durchsichtigen Tisch aus Plastik Platz. Ich tat es ihr gleich. Rahel verließ kurz den Raum und kehrte mit zwei dampfenden Bechern zurück. »Heiße Schokolade und schwarzer Kaffee aus dem Automaten«, sagte er und reichte sie uns.
    Dankend nahmen wir die Getränke entgegen.
    »Was ist es, das Ihr uns sagen möchtet?«, fragte ich.
    Rahel nahm uns gegenüber auf einem Stuhl Platz. Doch setzte er sich nicht, sondern sprang gekonnt mit beiden Füßen auf den Stuhl, um sogleich in die Hocke zu gehen, wobei er seinen Körper in einem unsichtbaren Takt wiegte.
    Wie ein Vogel, dachte Emily überrascht.
    »Ich hoffe, es stört Euch nicht, wenn ich in der Haltung meiner Art dasitze.«
    »Mitnichten.«
    War es nicht eine Ehre, dass er sich uns gegenüber so verhielt?
    »Die Geschichte, die ich Euch erzählen werde«, begann er, »mag seltsam klingen für menschliche Ohren. Doch was geschehen ist, ist nun einmal geschehen, und es liegt nicht in meiner oder eines anderen Engels Macht, es ungeschehen zu machen.«
    Und Rahel begann zu erzählen.
    Gebannt lauschten wir seinen Worten, die eine Melodie waren.
    Londons Straßen verbargen sich in der anfangs traurigen Melodie, die zunehmend aufklarte und uns durch die Wolken hinunter nach Whitehall trug. Dorthin, wo der bunt gekleidete Rahel in den Straßen musizierte. Dorthin, wo jeden Tag eine alte Dame des Weges kam und lange beim Engel verweilte, um seiner Musik zu lauschen. Ihre alten Füße wippten im beschwingten Takt der Musik, und ihre alten Augen bekamen ein Glänzen, das sie nicht mehr gehabt hatten, seitdem das Herz des Mannes stehen geblieben war, mit dem sie zweiundsechzig Jahre verheiratet gewesen war. Einfach so, an einem sonnigen Tag im Frühling des vergangenen Jahres.
    »Judi Piper«, sagte Rahel, »ist ihr Name.«
    Des Engels Stimme veränderte sich. Ein Hauch von Swing und Charleston erfüllte den Raum, und die alte Frau, die nun eine sehr junge Frau war, tanzte verliebt durchs Westend, einen ebenso verliebten Mann an ihrer Seite, der ihr bald einen Heiratsantrag machen und dreiundsechzig Jahre später plötzlich an einem Herzinfarkt sterben würde. Als die beiden sich zum ersten Mal küssten, taten sie dies zur Melodie eines Straßenmusikanten, der einen Song von Irving Berlin spielte.
I’ve got a crush on you
. Judi lachte, und Hugh, ihr künftiger

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